Montag, 26. November 2012

Im Strudel des Alltags



„Lebst du noch? Was ist denn mit dir los? Man hört gar nichts mehr von dir?“. Besorgte Stimmen verlangen Aufklärung und eines Statusupdates. Ja, was ist passiert? Zunächst mal sind die Klausuren „passiert“. Das heißt: die ersten Zwischenprüfungen. Aber wir sind ja in der Türkei, das vom universitären Bildungsniveau ungefähr mit einem Gymnasium mithalten kann. Nicht anders ist es zu erklären, dass Studierende zwei Seiten handschriftlich geschriebenen Textes Wort für Wort von einem Blatt ablesen und das dann eine "Präsentation" bezeichnen. Nicht anders ist es zu erklären, dass ich schon nunmehr den zweiten (Politik-)Studenten treffe, der ein überzeugter Fan von Hitler ist und dabei nicht gerade den Anschein macht, dass er die Ideologie desselben verstanden hat.
Was habe ich also in der ganzen Zeit gemacht, in der ich mich nicht hier gemeldet habe? Ja, hauptsächlich geärgert. Geärgert über das Bildungssystem, geärgert, dass die Schwierigkeit zunehmend auf der Quantität und nicht der Qualität der Kurse gelegt wird und geärgert, dass eigentlich keine Zeit mehr bleibt, um die schönen Dinge hier zu erleben.
Jetzt mit eigenem Bild ;-)
Wie zum Beispiel: Mandarinen! Mandarinen wie sie Allah persönlich erschaffen haben muss. Sämtliche Adjektive wären unzutreffend, um diesen Geschmack zu beschreiben. Und um denselben ja nicht zu vergessen, ist es seit nunmehr 10 Tagen mein Ritual täglich 1kg Mandarinen für unglaubliche 80 Cent zu kaufen. Genug gibt’s nicht. Und so schlurpe ich also mit Mp3-Player im Ohr und mandarinenschälend durch die Gassen, überquere optimistisch eine 3-spurige Straße ohne auch nur eines der 100 hupenden Autos um mich herum beachten zu wollen, denn ich weiß jetzt es gibt wichtigere Dinge: Mandarinen essen.

Samstag, 10. November 2012

"Inschallah" (Sofern Allah will)



Vorletztes Wochenende vor den Zwischenprüfungen. Höchste Zeit etwas zu unternehmen. Nach Canakkale soll es gehen. Der Ort, an dem die Truppen unter der Leitung Atatürks die Ententen aufhielten. Dort 1915, im Ärmelkanal.
Die Aktion war mal wie immer von mir stümperhaft vorbereitet. Ich fragte meine türkische Mitwohnerin, ob sie für mich im Reisebüro anrufen kann, ob heute Nacht noch ein Bus dorthin fährt, diese bejahen und ich packte meine Sachen und stehe 3 Stunden später, um Mitternacht, vor dem Reisebüro. Geschlossen. „Was? Das ist jetzt nicht euer Ernst, oder? Warum ist das denn jetzt geschlossen? Ah shit, vielleicht hätte ich mir mein Ticket vorher kaufen sollen. Das Büro hat ja nur bis 22 Uhr auf“. Eine Erkenntnis schlauer stehe ich mit meinem knallroten, vollgepackten Rucksack um Mitternacht am Reisebüro und warte auf einen Einfall. Ich beschließe Deniz nochmals anzurufen. Vielleicht hat sie eine Idee. „Reich mir eine türkischsprechende Person. Ich werde ihr/ihm die Situation erklären“, antwortet sie mir hörbar gerade von ihrem Schlaf entrissen. Nach wenigen Minuten wird mir das Telefon von einer Türkin wieder übergeben „Das ist gar kein großes Problem. Du kannst vielleicht ein Ticket im Bus kaufen. Die Frau mit der ich gerade gesprochen habe, wird dir weiterhelfen“. Ok, nun denn. Wie ein Schuljunge folge ich den Anweisungen der türkischen Frau, die mich zu einem anderen Bus bringt, in den ich mit ihr im vollsten Vertrauen zusammen einsteige. Nach 10min Fahrt frage ich das erste Mal vorsichtig in holprigen türkisch: „Sag mal, wo fährt der Bus eigentlich hin?“ – „Zu einem Busbahnhof. Dort hast du vielleicht Glück.“ Vielleicht Glück? Das hört sich ja optimistisch an, dafür, dass ich um 1 Uhr morgens 1 Stunde lang zu einem unbekannten Ort unterwegs bin. 

Um 1:30 Uhr komme ich dort an. Das Büro hat noch geöffnet. Ich kaufe mir ein Ticket, aber der nächste Bus kommt erst um 6.30 Uhr. Um diese Uhrzeit wollte ich eigentlich schon fast da sein. 5 Stunden muss ich hier also verbringen. „Du kannst dort schlafen. Ich kenne den Ort“, versucht mich Deniz mit Fernunterstützung zu ermutigen, „einfach ein wenig bequem machen“. Einfach ein wenig bequem machen? Ich blicke mich um: 7 Menschen sitzen hier im Wartesaal, fast alle sind in den seltsamsten Posen eingeschlafen, bei denen ich schon vom Hinsehen Nackenverspannungen bekomme. Im Rhythmus von 20min kracht immer mal wieder eine Durchsage in der Lautstärke eines neben dem Ohr platzierten Megafons. Ich scheine der einzige zu sein, der in seinen Sekundenschläfen dadurch regelmäßig geweckt wird. Hinzukommt, dass ich anscheinend dem Personal suspekt erscheine. Ich werde mehrmals wachgerüttelt und ausgefragt, was ich hier mache und wo ich hin will. Einmal muss ich sogar mein Ticket als Beweis vorlegen, dass mir geglaubt wird, dass ich ein Obdachloser bin, der hier einfach nur schlafen will. Naja, so fern ist die Vorstellung gar nicht.
Nachgestelltes Seeminen-Boot aus dem frühen 20.Jh.


Irgendwie und irgendwann nach 6,5 Stunden Fahrt in Canakkale angekommen, streife ich durch die Stadt und… Ja und was eigentlich? …und warte das es passiert. Das irgendetwas passiert. Es passiert mir doch sonst immer etwas. Ich merke, dass ich eine gewisse Erwartungshaltung an meine Trips aufgestellt habe. Irgendetwas komisches, verrücktes, cooles ist ja immer passiert. Also…? Also warte ich, ziehe durch ein Museum und da! Ja, das könnte es sein! Ich treffe Gamze, eine 19-jährige, türkische Erstsemester Studentin aus Ankara, die mit ihrer Familie hier ist. Wie ein adoptierter Schoßhund folge ich, wenn sie ruft: „Komm, Benjamin. Hier lang!“ und mir dann die türkischen Beschreibungen der Ausstellungsstücke übersetzt. Keine 10min dauert es bis unsere Bekanntschaft zu einer Facebook Freundschaft wurde. Aber das ist leider auch schon der Höhepunkt unserer Begegnung. Im Ausgang des Museums verabschieden wir uns und ich werde wieder freigelassen. Insgeheim hoffte ich, dass sie mir helfen kann einen Schlafplatz für heute Nacht zu finden (denn ich reise ja spontan), am besten auf einer Couch – am besten auf ihrer Couch – für umsonst. Aber irgendwie ist das heute nicht mein Tag.
Es folgen 2 Stunden umherirren in der Stadt und der Erkenntnis, dass selbst das billigste Hostel hier noch 20€ die Nacht will. Es hat 11° und Windgeschwindigkeiten wie man sie in Deutschland nur von der Nordsee kennt – keine gute Gelegenheit also, um draußen zu schlafen. Also muss ich mich doch mit so einem teuren Zimmer inklusiver kalter Dusche im Flur begnügen. Mitten im Nirgendwo. Ich hätte nicht gedacht, dass mein kleines, warmes Zimmer mit der mädchenhaft bestickten Bettdeckenbezug (weil meiner Mitbewohnerin gehörend) so schnell vermissen werde.