Donnerstag, 7. März 2013

Ewige Vergänglichkeit

Liebe Leser,
mittlerweile ist meine Reise beendet und damit auch mein Aufenthalt im Atatürk-Land. 
Nach 198 Tagen, 66 Blogeinträgen, dutzenden von Städten, hunderten von Freunden und tausenden von Erfahrungen reicher, bin ich endlich wohl behalten in Deutschland angekommen.

Ich bedanke mich bei allen Lesern, die mich ermutigt haben dieses Projekt weiterzuführen, für das Interesse, für die vielen Rückmeldungen, Anregungen, Fragen und für vor allem: das ihr mich auf dieser Reise begleitet habt! Das Schreiben war für mich persönlich von immenser Bedeutung, weil es mich vor einer Reizüberflutung bewahrt und hat es mir ermöglicht Erfahrungen in Narrative zu verarbeiten und somit für mich damit abzuschließen. Vielleicht haben die Geschichten euch gefallen, vielleicht konnte ich euch einige Merkwürdigkeiten des Mittleren Ostens näher bringen und verständlicher machen. Verblüffung und Faszination haben sich wie ein roter Faden durch meine 198 Tage durchgezogen. Und vielleicht ist auch das ein oder andere Mal der Funke der Neugier auf euch übergesprungen.

Ich schließe meinen Zirkel an Erzählungen mit dem Gedicht eines Mannes, eines Philosophen, der Zeit seines Lebens, den Mensch in der Gesellschaft (Zeitgeist) zu begreifen versucht hat. Seine folgenden Worte spiegeln auch meine inneren Konflikte mit der Vergänglichkeit wieder, die ich vor allem in den Stunden der Rückkehr so innig spürte und verstand.

O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
"Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust - tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit -,
- will tiefe, tiefe Ewigkeit!"

F. Nietzsche

Freitag, 1. März 2013

Im Dunkelgrau

Im dunkelgrau der Felsenwände verschlungen. In der Einöde der Steppe sich selbst überlassen. Die längst untergangene Sonne hinterlässt das trübe Brachland, das nun jeglicher Farbe entzogen wurde. Der Wind bläst mir Staub in die Augen und saugt Stück für Stück meine letzte Energie auf.
Aus dem Radio klagen Frauenstimmen nach ihrem Kurdistan. Es ist ein Ruf nach Anerkennung, nach Würdigung, nach ihrem Zuhause, ihrer Familie und Freunde. Ihre Sehnsucht geht in der meinen nach Heimat auf. Ich fühle mit ihnen, teile ihren Schmerz. 4 Männer, die in einem Taxi sitzen und mit trägen Augen auf den Horizont der Berglandschaft blicken. Stunden im Einklang ohne Worte.
Im Dunkelgrau in Kurdistan
Hieß es in den schlauen Büchern nicht immer, dass der Weg das Ziel ist? Doch wenn der Weg unendlich erscheint – können wir jemals das Ziel erreichen?
Im Anblick des langen und beschwerlichen Weges klingen solche Phrasen zynisch. Das kann nicht mein Ziel gewesen sein. Oder doch?  
Ich muss mich ablenken. Schalte meinen mp3 Player an und höre nur noch die Zeilen von BMTH, die mir zuvor nie aufgefallen ist, doch mir in diesem Moment so viel bedeuten: „I’m not homesick. I’m just so sick of going on, of going on”. Wohin fliehen, wenn man müde ist?

Mittwoch, 27. Februar 2013

Religion und Reaktion

Als "Islamische Republik Iran" gegründet, nimmt die Religion einen besonderen Stellenwert im Iran ein. Doch anders als seine vielen Nachbarländer ist der Iran nicht sunnitisch sondern schiitisch geprägt. Das geht auf das 6. Jahrhundert zurück als nach dem Tod Mohammeds über die Nachfolger des des Religionsstifters gestritten wurde. Während die Sunniten in den Kalifen die rechtmäßigen Nachfolger des Propheten sehen, betonen die Schiiten, dass Mohammeds Cousin (der einzige überlebende Nachfahre) der alleinige rechtmäßige Vertreter des Islams ist.
Zwischen Ganzkörerverhüllung...
Dementsprechend gibt es im Islam innerreligiös große Unterschiede. Doch wer vermutet, dass in einer "Islamischen Republik" alle religiös sind, der hat sich weit getäuscht. Wo Religion verordnet wird, dort nimmt ihre Kraft ab, das ist auch hier erkennbar.
Die Verschleierung der Frau ist zur ersten Waffe gegen das Regime geworden. Die verordnete Tracht in Schwarz findet man nur noch bei der Hälfte der jungen Menschen. Viele nutzen das Kopftuchgebot, um dieses modisch einzusetzen, sodass der Kopf und der Pony sichtbar bleiben.

... und modischem Kopftuch.

„Wann ist hier eigentlich der Gebetsruf? Haben wir den irgendwie die ganze Zeit verpasst? Wir haben ihn noch kein einziges Mal gehört!“, fragen wir unsere Gastgeber in Shiraz 4 Tage nach unserer Ankunft im Iran. „Naja, also erst einmal ist er nur 3 mal Tag, nicht wie in der sunnitischen Türkei 5 Mal, und zweitens gibt es auch nicht sooo viele Moscheen hier wie euch vielleicht aufgefallen ist. Wenn man nicht gerade in der Nähe einer Moschee, dann bekommt man davon auch nichts mit.“
Mit dem Chaddow aufpassen!
Die Andersartigkeit des Irans lernen wir kennen als wir in Teheran die größte und wichtigste Moschee besichtigen, in der wir statt dutzende betende nur dutzende schlafende Menschen wiederfinden. In der Türkei wäre das unvorstellbar. Doch ich müsste Lügen, wenn ich behaupten würde, dass es im Iran keine tiefgläubigen Menschen gibt. Ganz im Gegenteil: Die Regierungsapparat ist voll mit ihnen. „Als ich das letzte Mal bei der Polizei war, um meine Dokumente zu aktualisieren, da haben sie mich erst einmal heimgeschickt. ‚Geh nach Hause und zieh dich um. Dann werde ich wieder mit dir reden‘ haben sie zu mir gesagt. Dabei hatte ich fast alles verhüllt. Aber die wollten, dass ich die Chador [Burka-ähnlich] trage“. – „Die Polizei bestimmt, was du anzuziehen hast?“ frage ich verdutzt. – „Na klar. Die Polizisten hier sind die schlimmsten. Religiosität ist gerade für sie besonders wichtig – und das meine ich nicht nur moralisch gesehen, sondern auch finanziell: Wenn Beamte nicht 3 Mal am Tag beten gehen und die religiösen Gebote beachten, dann bekommen sie Gehaltsabzug! Das ist kein Witz!“. Dennoch muss ich lachen. Vielleicht aus Ungläubigkeit.

Dienstag, 26. Februar 2013

Underground

Wir sitzen mit unserer Gastgeberin Mina in einem Café hoch über der Stadt auf einem Berg. Fernab von Regularien, so scheint es mir zumindest. „Hörst du das Lied? Das ist eigentlich auch verboten hier“, erklärt uns Mina als würde sie sich über die  Regularien lustig machen. „Aber das ist doch persisch? Und klingt auch traditionell? Warum soll das verboten sein?“ - „Weil die Künstler im Ausland leben. Das kommt dann automatisch auf den Index. Nur traditionelle Musik ist erlaubt, und nur Musik aus Iran. Achja, und tanzen ist auch verboten. Selbst das Wort „tanzen“ darf nicht in der Öffentlichkeit gebraucht werden! Gleichgeschlechtlicher Tanz ist vielleicht noch ok, aber zweigeschlechtlich geht hier gar nicht. Die Männer müssen hier ja auch per Gesetz einen Abstand zu den Frauen halten. Die Frau wird mit Ehre behandelt – sagen sie zumindest so.
Auf der anderen Seite haben Frauen hier nicht zu rauchen, nicht Fahrrad zu fahren, in der Öffentlichkeit ihren Körper zu verhüllen, und natürlich Jungfrau bis zur Hochzeit zu sein. Der neuste Clou der Regierung: Sie haben ein Gesetzt erlassen, dass es Frauen jetzt auch noch verbietet mit dem Hund Gassi zu gehen. Begründung: Durch die Begleitung eines Hundes würde zu viel Aufmerksamkeit auf die Frau gelenkt, die sich ja gefälligst unsichtbar und reserviert gegeben soll. Achja: Und fremden Menschen helfen ist übrigens auch verboten. Wenn ihr also jemanden sagt, dass ihr bei einem Iraner in der Wohnung geschlafen habt, dann kommt dieser ins Gefängnis. Also passt auf, was ihr sagt!“.
Mir brummt der Kopf vor lauter Ge- und Verboten, was man meinem Blick anscheinend auch anmerkt. „Schau nicht so. Du merkst ja selbst, dass das nicht die Realität wiederspiegelt“ versucht mich Mina wieder abzuholen. Letztlich finden sich immer Wege sein Leben zu leben, wenn man das will.“ Dieser Satz bleibt mir im Gedächtnis als wir Stunden später in ein Auto eines ihrer Freunde steigen und aus den Boxen des gestylten Iraners mit Sonnenbrille Beat von Pitbul „International Love“ donnern. „Wunder dich nicht, wenn er ein wenig schräg drauf ist“, warnte mich Mina zuvor vor, „Er hat vor 1-2 Stunden Marihuana geraucht. Deswegen ist er jetzt ein wenig hyperaktiv“. – Steht darauf nicht die Todesstrafe? „Ja, wenn sie ihn erwischen“. ist die nüchterne und indifferente Antwort.
 „Wohin fahren wir eigentlich?“ – „Darfst du dir aussuchen: Wir können zu mir und Vodka trinken oder zu einer Underground-Shisha Bar, wo auch Frauen hin dürfen.“ Ich habe also die Auswahl zwischen 3 und 2 Jahren Haftstrafe. Herrlich!  „Ich nehm die Underground-Shisha-Bar!“.
Nach 30 min Fahrt in gefühlte Wüste Irans kommen wir schließlich an einem Garten vorbei, der mit seinen kaputten Scheiben, Lampen und rostigem Gartentor eher an einen Horrorfilm erinnert. „Willkommen in unserer Welt“, spricht Mohammad stolz zu mir macht das geheime Lichtsignal zu dem Burschen am Eingangstor, der daraufhin die riesigen, rostigen Metalltüren öffnet. Was mir innen begegnet ist überraschend groß, überraschend geräumig und stylisch. Ich finde ein ganzes Restaurant in einer alten Gartenanlage vor. Von außen nicht sichtbar und durch Sicherheitsmaßnahem vor neugierigen Schnüffelnasen abgeschirmt. „Das ist einer der einzigen Orte, an denen ich mich mit meinen männlichen Freunden treffen kann. 30 km außerhalb der Stadt, in einer alten Gartenanlage. Aber immerhin haben wir so etwas! Das kann nicht jede Stadt von sich behaupten“ erklärt mir Mina mit ein klein wenig stolz in ihrer Stimme.
Ich bewege mich mit meinen Gastgebern in den letzten Tagen in einer ver-rückten Welt, die dadurch geprägt ist, dass die Jugend Wege sucht, sich zu beschäftigen und restriktiven Konservatismus hinter sich zu lassen. Das iranische System ist streng und locker in Einem – so streng, dass es sozusagen alles pauschal verbietet, und so locker, dass es keine generelle Verfolgung gibt,
Es ist am ehesten mit der deutschen DDR Erfahrung zu vergleichen, in dem eine ganze Bevölkerung vor der Selektivität des Systems erzittern musste. „Ich sage immer: Sie lassen dich in Ruhe, wenn du ihnen nichts machst. Rückst du aber in ihrer Zielscheibe, so kannst du sicher sein, dass sie gleich hunderte Sachen bei dir finden. Die Gesetze zwingen dich eigentlich dazu, illegal zu leben. Fast jeder, der es sich leisten kann, hat eine Satellitenschüssel auf dem Dach versteckt, die dann bei Kontrollen von der Polizei mitgenommen, eine Strafe dafür bezahlt und anschließend eine neue gekauft wird“. Sozusagen die Zirkularität des Systems.
Jeden meiner Gastgeber stelle ich die gleiche Frage und bin überrascht über deren Konformität bezüglich der Antworten: „Was ist dein größter Traum?“ – „Nach Amerika oder Europa auszuwandern!“ – „Warum? Was weißt du denn über diese Regionen? Was reizt dich denn daran?“, meist stoße ich bei dieser Fragen auf inhaltsleere Gesichter und Schulterzucken. „Keine Ahnung. Alles was ich weiß, ist, dass es dort möglich ist, frei zu leben. Du kannst dich glücklich schätzen, dass du dort geboren wurdest.“
Das bin ich, und das wird mir jeden Tag erneut bewusst. Ich kann mich glücklich schätzen und ich weiß um meine Verantwortung all diesen Menschen gegenüber, denen diese Chance auf ein einfaches Leben vielleicht verwehrt bleibt. Ich weiß, dass ich ihnen mehr als nur meinen Respekt schulde.

Montag, 25. Februar 2013

Willkommen in Esfahan oder "Darf ich Sie heiraten?"


Esfahan, zauberhaftes Esfahan
„Esfahan zählt zu den schönsten Städten der Welt“ steht in unserem Reiseführer. Doch was uns nach einer Fahrt von 7 Stunden mit dem Bus auffällt, ist, dass die Stadt vor allem eins ist: anders. Wir steigen aus dem Taxi aus, das uns in die Innenstadt gebracht hat, wo wir unseren Gastgeber treffen sollen. „Hello Mister, welcome to Esfahan!“ entgegnet uns ein 18-jähriger Junge beim Vorbeilaufen. Ich bleibe zurückhaltend, weiß nicht, ob ich seine Freundlichkeit als Freundlichkeit oder als Trick interpretieren soll. Der nächste Passant kommt vorbei, lächelt uns an und sagt: „Welcome. Have a nice time here.“ Wie eine Litfaßsäule stehen wir mit unseren dicken Rucksäcken im Zentrum der Stadt und werden von den Menschen angelächelt und begrüßt. Ich bin verwirrt, weil ich so etwas noch nie erlebt habe und muss mich erst einmal setzen. Einen Augenblick später kommt eine Mutter mit ihrer Tochter die Promenade entlang. Sie kann ihren Blick nicht von uns lassen und lächelt schüchtern als sie sieht, dass ich sie bemerke. Mit ihrer Tochter im Schlepptau setzt sie sich 1 Parkbank neben an und spickelt ab und zu zu uns rüber, bis sie schließlich mit ihrer Tochter als Schutzschild und Übersetzer herkommt und fragen lässt: „Meine Mutter will wissen woher ihr kommt und was ihr hier macht. Sie will euch sagen, dass sie euch hübsch findet.“
Nach kurzem Disput zwischen Tochter und Mutter auf Persisch, verabschieden sie sich schließlich. Ihre Tochter wird also nicht vor Ort mit uns verheiratet.
Die Option der Heirat wird hier übrigens ernsthaft in Erwägung gezogen. „Ich würde so gerne in Deutschland studieren. Aber als Iranerin ein Visum für Amerika oder Europa zu bekommen, ist nahezu unmöglich. Das einfachste ist, jemanden von dort zu heiraten“, erklärt mir meine hiesige Gastgeberin M. In einem Land, wo man Liebesbeziehungen nur im Untergrund führen kann und Heirat ein politischer Akt wird, ist die Hemmschwelle zur Heirat eines (europäischen) Fremden nicht besonders groß.
Iranische Mädchen sind es gewohnt ein Leben zu führen, in dem Liebesbeziehungen meist selbst vor den Eltern geheimgehalten werden müssen, in dem sie sich mit dem anderen Geschlecht nur versteckt treffen können, in dem sie es selbst in Kauf nehmen ihre vorehelich verlorene Jungfräulichkeit operativ wieder herstellen lassen. Ja, ihr habt richtig gelesen: Es gibt keine geringe Anzahl von Mädchen, die sich bei einem Arzt ihr Jungfernhäutchen wieder zusammennähen lassen. Es reflektiert eine Gesellschaft mit Werten und Traditionen, die nicht mehr zeitgemäß, jedoch immer noch stark genug sind, diese durchzusetzen.

Sonntag, 24. Februar 2013

Familienduell

Unser Gastgeber hier ist ein interessanter Kauz. Er ist Musiker in einem Land, wo Musik staatlich reguliert ist. Er ist Rocker in einem Land, in dem Rock-Musik als satanistisch gewertet wird und auf deren Antizipation eine Haftstrafe steht. Er trinkt Zuhause mit Freunden geschmuggelten oder selbst gebrannten Alkohol, auf das ebenfalls eine lange Haftstrafe  – bei wiederholten Vergehen sogar die Todesstrafe steht. Er ist die Personifikation der iranischen Gesellschaft, die Teilaspekte ihres Lebens im Untergrund erleben, versteckt und im Geheimen, immer mit der Angst irgendwann doch erwischt zu werden.
„Ich muss für eine Weile alleine lassen, ich habe noch Arbeit zu tun. Ich hole euch nachher wieder ab, ok?“ – „Ja, kein Problem. Wir wurden noch von einer Person angeschrieben, die uns auch gerne treffen wollte. Kannst du ihr schnell am Telefon erklären, wo wir gerade sind?“ – „Ja, kein Problem“, antwortet S. und lotst das Mädchen in die richtige Straße. Kurz bevor sie ankommt, verabschiedet er sich von uns.
„Schön euch hier zu treffen! Wer ist denn euer Gastgeber hier in Esfahan?“, fragt die 23-jährige Architekturstudentin T. als sie uns begegnet. „Boah, das mit den Iranischen Namen ist immer so schwer, weil sie so anders klingen und wir sie meist nicht aussprechen können. Sama… Salaar… Soldaah… so irgendwas. Er macht Musik. Iranische Rockmusik. Er ist ein bisschen älter als du. Ich glaube 34“. Auf einmal bleibt T. wie versteinert stehen. Und schaut uns mit weitaufgerissenen Augen an. „Sein Name war aber nicht etwa Saijd?“. „Doch! Genau, das war er! Kennst du ihn etwa?“ „Oh mein Gott…. -  das ist mein Bruder!“ – „Ach, wie cool. Ist ja witzig“ antworten wir, dies für kleinen Zufall haltend und noch nicht realisierend, was für eine Rolle wir gerade spielen. Sie blickt nüchtern auf den Boden und spricht mit leiser Stimme: „Wir haben seit 3 Jahren keinen Kontakt mehr. Ich habe nicht einmal seine Stimme erkannt“.
Wir sind inmitten eines Familiendramas gerutscht. Wir haben 2 Verabredungen von 2 Geschwistern, die sich seit 3 Jahren nicht mehr gesehen haben und zwischen denen mehr als nur 1 Geschichte steht. Am nächsten Morgen erfahren wir mehr dazu.
Die Familie des verlorenen Sohns
„Wisst ihr, die Geschichte hat vor vielen Jahren angefangen. Mein Vater war studierter Psychologe, doch nach der Revolution 1979 musste er aufgrund politischer Aktivitäten 9 Jahre lang ins Gefängnis. Meine Mutter musste aufgrund ihrer künstlerischen Tätigkeiten ebenfalls für 7 Monate ins Gefängnis. Mein Bruder Sajid war gerade einmal 1 Jahr alt und musste von unseren Großeltern großgezogen werden.
Diese Zeit nach der Revolution war vor allem durch Nationalismus und Rassenideologie geprägt, die unsere Großeltern völlig einnahmen. Weil unser Vater türkische Wurzeln hat und damit nach der Rassenideologie nicht mehr als iranischer Arier gilt, hatten unsere Großeltern immer schlecht von unseren Eltern geredet. Versteht mich nicht falsch: Ich liebe meinen Bruder und er liebt mich auch, aber es ist einfach so, dass er in dieser ganzen Tragödie in zwei Teile gerissen wurde. Meine Großeltern waren wie eine Krankheit, die ihn von innen ausgehöhlt hat. Sie haben ihm die eigenen Eltern schlecht geredet und waren selbst niemals für ihn da, wenn er jemanden gebraucht hat.“
Die Mutter fährt T. ins Wort: „Saijd, mein Junge, es tut so weh zu wissen, dass er in der gleichen Stadt wohnt und doch von uns so fern ist…“ flüstert die Mutter klagend, während ihr eine Träne auf ihr Frühstücksteller tropft und sie vor lauter Traurigkeit vom Tisch flüchtet.  
„Wir haben beschlossen, dass er sich erst selbst finden muss“, erzählt T. weiter, nachdem ihre Mutter sich wieder fassen konnte. „Denn zuvor hat er in seiner Orientierungslosigkeit immer nur Streit gesucht, immer nur alles kaputt gemacht, immer nur traurig gewesen. Wir hofften und hoffen noch immer, dass er irgendwann zu uns zurück findet.“
Wir spielen unbeabsichtigterweise in diesem Drama eine gewisse Schlüsselrolle. „Ich bin so glücklich die Stimme meines Bruders wieder gehört zu haben. Er klingt stabiler, fröhlicher. Ja, das macht auch mich glücklich. Vielleicht traue ich mich ja ihn anzurufen. Vielleicht ist das jetzt eine Chance ihn endlich wieder zu sehen und alles Alte hinter sich zu lassen?“.
Wenige Stunden vor dem Gespräch am Frühstückstisch bei T.s Familie, sitzen wir gespannt in einem Café und rufen ihn an. Es soll eine Überraschung werden. Die Familie soll mit unserem Zutun wieder zusammenfinden, oder zumindest wieder miteinander reden. Doch am anderen Ende nimmt keiner ab. Obwohl wir uns einige Stunden zuvor verabredet haben, dass er uns hier abholt, scheint sein Telefon ausgeschaltet. Erst spät nachts erhalte ich einen Anruf eines verwirrten jungen Mannes. „Hallo Benjamin, sorry. Ich konnte nicht… es ging alles so schnell… Meine Großmutter…. Sie ist alles was ich habe...  Herzinfarkt…. Krankenhaus… ich weiß nicht… alles so schnell...“. „Kein Problem Sajid. Wir haben eine Unterkunft in einem Hostel gefunden. Alles kein Problem. Kümmere dich um deine Großeltern. Sie brauchen dich jetzt dringender als wir. Ich hoffe, dass alles bald wieder gut wird!“. Das ist also das etwas dramatische Ende einer Wiedervereinigungsgeschichte.  Das Schicksal hat noch nicht gewollt, dass die Familie sich unter unserer Patenschaft wieder vereint. Noch nicht.