Unser Gastgeber hier ist ein interessanter Kauz. Er ist
Musiker in einem Land, wo Musik staatlich reguliert ist. Er ist Rocker in einem
Land, in dem Rock-Musik als satanistisch gewertet wird und auf deren
Antizipation eine Haftstrafe steht. Er trinkt Zuhause mit Freunden
geschmuggelten oder selbst gebrannten Alkohol, auf das ebenfalls eine lange
Haftstrafe – bei wiederholten Vergehen
sogar die Todesstrafe steht. Er ist die Personifikation der iranischen
Gesellschaft, die Teilaspekte ihres Lebens im Untergrund erleben, versteckt und
im Geheimen, immer mit der Angst irgendwann doch erwischt zu werden.
„Ich muss für eine Weile alleine lassen, ich habe noch
Arbeit zu tun. Ich hole euch nachher wieder ab, ok?“ – „Ja, kein Problem. Wir
wurden noch von einer Person angeschrieben, die uns auch gerne treffen wollte.
Kannst du ihr schnell am Telefon erklären, wo wir gerade sind?“ – „Ja, kein
Problem“, antwortet S. und lotst das Mädchen in die richtige Straße. Kurz bevor
sie ankommt, verabschiedet er sich von uns.
„Schön euch hier zu treffen! Wer ist denn euer Gastgeber
hier in Esfahan?“, fragt die 23-jährige Architekturstudentin T. als sie uns
begegnet. „Boah, das mit den Iranischen Namen ist immer so schwer, weil sie so
anders klingen und wir sie meist nicht aussprechen können. Sama… Salaar…
Soldaah… so irgendwas. Er macht Musik. Iranische Rockmusik. Er ist ein bisschen
älter als du. Ich glaube 34“. Auf einmal bleibt T. wie versteinert stehen. Und
schaut uns mit weitaufgerissenen Augen an. „Sein Name war aber nicht etwa
Saijd?“. „Doch! Genau, das war er! Kennst du ihn etwa?“ „Oh mein Gott…. - das ist mein Bruder!“ – „Ach, wie cool. Ist
ja witzig“ antworten wir, dies für kleinen Zufall haltend und noch nicht
realisierend, was für eine Rolle wir gerade spielen. Sie blickt nüchtern auf
den Boden und spricht mit leiser Stimme: „Wir haben seit 3 Jahren keinen
Kontakt mehr. Ich habe nicht einmal seine Stimme erkannt“.
Wir sind inmitten eines Familiendramas gerutscht. Wir haben
2 Verabredungen von 2 Geschwistern, die sich seit 3 Jahren nicht mehr gesehen
haben und zwischen denen mehr als nur 1 Geschichte steht. Am nächsten Morgen
erfahren wir mehr dazu.
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Die Familie des verlorenen Sohns |
„Wisst ihr, die Geschichte hat vor vielen Jahren angefangen.
Mein Vater war studierter Psychologe, doch nach der Revolution 1979 musste er
aufgrund politischer Aktivitäten 9 Jahre lang ins Gefängnis. Meine Mutter
musste aufgrund ihrer künstlerischen Tätigkeiten ebenfalls für 7 Monate ins
Gefängnis. Mein Bruder Sajid war gerade einmal 1 Jahr alt und musste von
unseren Großeltern großgezogen werden.
Diese Zeit nach der Revolution war vor allem durch
Nationalismus und Rassenideologie geprägt, die unsere Großeltern völlig einnahmen.
Weil unser Vater türkische Wurzeln hat und damit nach der Rassenideologie nicht
mehr als iranischer Arier gilt, hatten unsere Großeltern immer schlecht von
unseren Eltern geredet. Versteht mich nicht falsch: Ich liebe meinen Bruder und
er liebt mich auch, aber es ist einfach so, dass er in dieser ganzen Tragödie
in zwei Teile gerissen wurde. Meine Großeltern waren wie eine Krankheit, die
ihn von innen ausgehöhlt hat. Sie haben ihm die eigenen Eltern schlecht geredet
und waren selbst niemals für ihn da, wenn er jemanden gebraucht hat.“
Die Mutter fährt T. ins Wort: „Saijd, mein Junge, es tut so
weh zu wissen, dass er in der gleichen Stadt wohnt und doch von uns so fern
ist…“ flüstert die Mutter klagend, während ihr eine Träne auf ihr Frühstücksteller
tropft und sie vor lauter Traurigkeit vom Tisch flüchtet.
„Wir haben beschlossen, dass er sich erst selbst finden
muss“, erzählt T. weiter, nachdem ihre Mutter sich wieder fassen konnte. „Denn
zuvor hat er in seiner Orientierungslosigkeit immer nur Streit gesucht, immer
nur alles kaputt gemacht, immer nur traurig gewesen. Wir hofften und hoffen
noch immer, dass er irgendwann zu uns zurück findet.“
Wir spielen unbeabsichtigterweise in diesem Drama eine
gewisse Schlüsselrolle. „Ich bin so glücklich die Stimme meines Bruders wieder
gehört zu haben. Er klingt stabiler, fröhlicher. Ja, das macht auch mich
glücklich. Vielleicht traue ich mich ja ihn anzurufen. Vielleicht ist das jetzt
eine Chance ihn endlich wieder zu sehen und alles Alte hinter sich zu lassen?“.
Wenige Stunden vor dem Gespräch am Frühstückstisch bei T.s
Familie, sitzen wir gespannt in einem Café und rufen ihn an. Es soll eine
Überraschung werden. Die Familie soll mit unserem Zutun wieder zusammenfinden,
oder zumindest wieder miteinander reden. Doch am anderen Ende nimmt keiner ab.
Obwohl wir uns einige Stunden zuvor verabredet haben, dass er uns hier abholt,
scheint sein Telefon ausgeschaltet. Erst spät nachts erhalte ich einen Anruf
eines verwirrten jungen Mannes. „Hallo Benjamin, sorry. Ich konnte nicht… es
ging alles so schnell… Meine Großmutter…. Sie ist alles was ich habe... Herzinfarkt…. Krankenhaus… ich weiß nicht…
alles so schnell...“. „Kein Problem Sajid. Wir haben eine Unterkunft in einem
Hostel gefunden. Alles kein Problem. Kümmere dich um deine Großeltern. Sie
brauchen dich jetzt dringender als wir. Ich hoffe, dass alles bald wieder gut
wird!“. Das ist also das etwas dramatische Ende einer
Wiedervereinigungsgeschichte. Das
Schicksal hat noch nicht gewollt, dass die Familie sich unter unserer
Patenschaft wieder vereint. Noch nicht.