Mittwoch, 23. Januar 2013

Am Rande der Gesellschaft

 Einige Dinge sind noch abzuarbeiten auf meiner To-See Liste. Das Semester hat sein Ende erreicht, jetzt ist endlich Zeit die Dinge zu adressieren, die während des Semesters nach hinten gestellt wurden. Um 13:30 Uhr schreibe ich eine schwedische Gleichgesinnte Malin an, die genau so wie ich ihre letzten Tage nochmal die Stadt erkunden will: „Hey, bin gerade aufgestanden. Was machst du heute? Stadtmauern schon gesehen?“ – „Auch gerade am nüchtern werden. Bin dabei! Sagen wir 45 min an der Tram-Station?“. Und so stehen wir türkische 45 min später an der Haltestelle und gondeln 1 Stunde bis zu den Außenbezirken Istanbuls.
Auf sein Bauchgefühl sollte man ja bekanntlich hören. Doch was macht man, wenn das Bauchgefühl einfach verrücktspielt? „Merkst du auch, dass die Leute hier uns ganz komisch anschauen?“ – „Ja, irgendwie ist das hier komisch“, bemerkt Malin. Wir befinden uns an den Stadtmauern, die einst das prächtige Konstantinopel, Hauptstadt des oströmischen Reiches, das heutige Istanbul schützte. Doch statt massiven Mauern mit begehbaren Teilen und historischen Beschreibungen, wie es eigentlich aufgrund der historischen Signifikanz angemessen wäre, sehen wir nur ein lang gezogener Haufen Trümmer. Steine um die sich keiner mehr schert, die nicht begehbar gemacht wurden, sondern im Gegenteil sogar aufgebrochen wurden, um eine Straße dort passieren zu lassen. Der laut einer Rangliste der „Time“ zufolge als 4. wichtigsten zeitgenössischen Intellektuellen weltweit und ersten türkische Nobelpreisträger ausgezeichnete Orhan Pamuk schreibt über genau diese Mentalität der Istanbuler: „Das probateste Mittel, sich nicht als tragische Hinterlassenschaft eines untergegangenen Reiches zu fühlen, besteht darin, sich um historische Bauten erst gar nicht zu kümmern und auch ihren Namen oder ihren architektonischen Besonderheiten keinerlei Beachtung zu schenken.“
Und so finden wir uns als einzige Touristen an einem Trümmerfeld der Geschichte wieder. An den Blicken der Menschen spüren wir, dass wir hier nicht gerade willkommen sind. Eine Gruppe von Jungs, die meterhohen Mauerbruchstücke als Spielplatz auserkoren haben, rufen und pfeifen uns hinterher, um unsere Aufmerksamkeit zu bekommen. Ein paar Meter weiter versuchen wir selbst die Mauern zu erklimmen, bis uns ein Mann von oben zuruft, dass das hier kein Weg ist. Wir sollen doch bitte mit ihm kommen, grinst er uns an, sodass uns beiden irgendwie unheimlich zu Mute wird. „Nein Danke. Wir finden einen anderen Weg.“ So umschleichen wir Mauerstück für Mauerstück und suchen nach einer erklimmbaren Stelle. 
Wir passieren einen älteren Mann, dem wir auf den ersten Augenblick keine große Beachtung schenken. Doch scheinbar haben wir so eben sein Territorium betreten. Er tritt unter seiner Plastikplane, die er über einige Mauersteine gehängt hat, hervor und schreitet auf seinen Einkaufswagen, indem sich ein paar Flaschen und Decken befinden, zu. Das Mauerstück betrachtend erkennen wir bald, dass auch hier kein Aufstieg möglich sein wird, drehen uns also um und wollen zurückgehen, als der gelbbärtige Mann mit der schiefsitzenden Mütze und der ausgefransten Hose eine Waffe aus seinem Einkaufswagen hervorholt. Ganz auf seine Pistole fixiert, bemerkt er unser erneutes Vorbeilaufen nicht, während uns langsam dämmert in was für einer Gefahr wir gerade womöglich sind. „Ist das eine…?“ flüstert mir Malin ins Ohr und ergreift meinen Arm. „…eine Pistole. Ja verdammt. Fuck, wo sind wir hier?“. Der Herzschlag ist nun bis zum Hals spürbar, Adrenalin durchflutet unsere Körper und bildet einen seltsamen chemischen Cocktail aus Aufregung und Todesangst, während hinter uns das Klicken einer entsicherten Waffe hörbar ist. „Schnell! Dort vorne sind Menschen!“. Wir springen über die letzten Matschpfützen hinüber und wähnen uns bei den nächsten zwielichtigen Menschen, die um eine brennende Mülltonne stehen, erstmals in Sicherheit. „Vielleicht war das doch keine so gute Idee hier.“  Mit etwas zitternden Beinen beschließen wir die Rückreise wieder anzutreten. Genug gesehen für heute.
Doch die Bilder bleiben im Kopf. Grimmige Menschen und herausfordernde Blicke spotten über unseren Leichtsinn. Und wir lernen: An manchen Orten ist man nun mal nicht willkommen, auch wenn man sich einbläuen will, dass man mittlerweile die Menschen und die Gefahren abschätzen kann.  

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