Wenn ihr mich sehen könntet, ihr müsstet lachen. Ich sitze
mit einer auf dem Kopf aufgeschnallten Lampe wie sie Bergarbeiter tragen, in
meinem dunklen Mini-Zimmer, bestehend aus einem Bett, einem Schrank und meinem
Koffer. Hierhin habe ich mich also um 22 Uhr verkrochen. Um die Ecke sitzt
Deniz im Dunkeln und lässt sich von 90 Dezibel klassischer Musik aus dem Radio
beschallen. „Willst du jetzt lernen?“ fragt sie mich, als ins Wohnzimmer und
meinem gleichzeitigen Arbeitsplatz schleiche. „Ja, muss ich leider, ich habe
morgen eine Prüfung.“ „Mh, aber bitte mach nicht das Licht an. Licht stört
meine Kreativität. Ich will hier etwas schreiben und nachdenken.“ Natürlich. So
sitze ich also hier, in die Hölle der Passivität vertrieben und versuche meine
eigenen Schriftzeichen auf dem vom Regen durchnässten Mitschrieben zu
verstehen.
Ach, aber eigentlich habe ich gar keine wirkliche Lust zu
lernen. Warum denn auch? Nicht mal die 'echten' Studenten lernen hier. „Wie viele Prüfungen hattest du denn diese
Woche?“ „Mh…“, überlegt eine türkische Freundin, „vielleicht 9 Stück oder so.“
„9 Stück? Das ist ganz schön viel!!!“ „Ach, ja. Aber ich war nur bei 5 von
denen. Und bei 2 weiß ich sicher, dass ich durchfallen werde. Die anderen mach
ich vielleicht nächstes Semester oder das Semester darauf.“ „Könnt ihr
Prüfungen so oft machen wie ihr wollt?“ frage ich ungläubig, weil es in
Deutschland der Fall ist, dass du nur 2 Versuche hast, dann einen
Härtefallantrag stellen musst und danach ‚weg vom Fenster‘ bist. „Klar. Wir können alles nochmal machen. Bis
wir halt irgendwann bestehen.“
Das erklärt auch, warum zu der Prüfung die ich heute
geschrieben habe, Leute erschienen sind, die ich noch nie zuvor gesehen habe.
Aus unserer Kleingruppe von 7 Leuten, wurden auf einmal 13. „Sag mal“, fragt
mich eine unbekannte türkische Studentin, die sich neben mich setzt, „sag mal:
weißt du was dran kommt?“ Entgeistert blicke ich zurück, doch ich kann nicht
mehr antworten, weil unsere Lehrerin bereits die Arbeitsblätter austeilt. Auf
ihnen lese ich: ‚Bitte wählen Sie 3 aus den 4 gestellten Fragen und beantworten
Sie diese. Jede Frage wird gleich gewichtet und enthält 35 Prozent.‘ Aha. 3x35
= 110%. Alles klar. Da war wohl wieder ein Genie am Werk oder es wird versucht
die Studenten mit allen Mitteln zum Bestehen der Klausur zu zwingen.
Nach 35 min gebe ich ab. Im Vorbeischreiten kommt mir eine
andere türkische Studentin aus der Eingangstür entgegen. Seelenruhig und mit
größtmöglichem Selbstverständnis setzt sie sich an einen Platz und beginnt ihre
Klausur mit 35 min Verspätung.
Aber ich möchte nicht nur auf die lokalen Studenten und das
Bildungssystem schimpfen: Denn es färbt auch ab. Am späten Nachmittag, an dem
ich gemütlich in der Sonne einen Tee trinke und mein 15° warmes Istanbul im Januar genieße, treffe ich eine
italienische Freundin wieder: „Marcella, na? Wie waren deine Klausuren?“, das
Mädchen, das für ihre Verplantheit berüchtigt ist, grinst mich an, kneift ihre
Augen zum Schutz vor der grellen Sonne zusammen und antwortet: „Also, die erste
war richtig beschissen…. Und die zweite, da habe ich nach 10 min abgegeben.“
„Wow, das war schnell. So gut?“ „Nö, ich wusste nichts und hab ein leeres Blatt
abgeben.“ Man adaptiert sich hier schnell im Chaosmanagement.
Ich will nicht normativ wirken, aber solches Verhalten muss
jeden engagierten Lehrer und jede engagierte Lehrerin doch auf die Palme
bringen. Vielleicht wirken deshalb
einige Lehrkräfte entkräftet und saftlos.
Ein Grund mehr bald Goodbye zu sagen. Ja, ich werde Istanbul
bald verlassen. Um mir den Abschied aus dieser Stadt leichter zu machen,
versuche ich schon seit Tagen
einzureden, dass ich froh sein werde, das hier alles hinter mir zu
lassen. Endlich neuen Abenteuern begegnen! Doch letztlich wird es dennoch alles
andere als leicht, mich aus den Fängen Istanbuls zu lösen. Aber ich muss. Ich
muss.
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