Dienstag, 15. Januar 2013

Frust

Wenn ihr mich sehen könntet, ihr müsstet lachen. Ich sitze mit einer auf dem Kopf aufgeschnallten Lampe wie sie Bergarbeiter tragen, in meinem dunklen Mini-Zimmer, bestehend aus einem Bett, einem Schrank und meinem Koffer. Hierhin habe ich mich also um 22 Uhr verkrochen. Um die Ecke sitzt Deniz im Dunkeln und lässt sich von 90 Dezibel klassischer Musik aus dem Radio beschallen. „Willst du jetzt lernen?“ fragt sie mich, als ins Wohnzimmer und meinem gleichzeitigen Arbeitsplatz schleiche. „Ja, muss ich leider, ich habe morgen eine Prüfung.“ „Mh, aber bitte mach nicht das Licht an. Licht stört meine Kreativität. Ich will hier etwas schreiben und nachdenken.“ Natürlich. So sitze ich also hier, in die Hölle der Passivität vertrieben und versuche meine eigenen Schriftzeichen auf dem vom Regen durchnässten Mitschrieben zu verstehen.
Ach, aber eigentlich habe ich gar keine wirkliche Lust zu lernen. Warum denn auch? Nicht mal die 'echten' Studenten lernen hier. „Wie viele Prüfungen hattest du denn diese Woche?“ „Mh…“, überlegt eine türkische Freundin, „vielleicht 9 Stück oder so.“ „9 Stück? Das ist ganz schön viel!!!“ „Ach, ja. Aber ich war nur bei 5 von denen. Und bei 2 weiß ich sicher, dass ich durchfallen werde. Die anderen mach ich vielleicht nächstes Semester oder das Semester darauf.“ „Könnt ihr Prüfungen so oft machen wie ihr wollt?“ frage ich ungläubig, weil es in Deutschland der Fall ist, dass du nur 2 Versuche hast, dann einen Härtefallantrag stellen musst und danach ‚weg vom Fenster‘ bist.  „Klar. Wir können alles nochmal machen. Bis wir halt irgendwann bestehen.“
Das erklärt auch, warum zu der Prüfung die ich heute geschrieben habe, Leute erschienen sind, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Aus unserer Kleingruppe von 7 Leuten, wurden auf einmal 13. „Sag mal“, fragt mich eine unbekannte türkische Studentin, die sich neben mich setzt, „sag mal: weißt du was dran kommt?“ Entgeistert blicke ich zurück, doch ich kann nicht mehr antworten, weil unsere Lehrerin bereits die Arbeitsblätter austeilt. Auf ihnen lese ich: ‚Bitte wählen Sie 3 aus den 4 gestellten Fragen und beantworten Sie diese. Jede Frage wird gleich gewichtet und enthält 35 Prozent.‘ Aha. 3x35 = 110%. Alles klar. Da war wohl wieder ein Genie am Werk oder es wird versucht die Studenten mit allen Mitteln zum Bestehen der Klausur zu zwingen. 
Nach 35 min gebe ich ab. Im Vorbeischreiten kommt mir eine andere türkische Studentin aus der Eingangstür entgegen. Seelenruhig und mit größtmöglichem Selbstverständnis setzt sie sich an einen Platz und beginnt ihre Klausur mit 35 min Verspätung.
Aber ich möchte nicht nur auf die lokalen Studenten und das Bildungssystem schimpfen: Denn es färbt auch ab. Am späten Nachmittag, an dem ich gemütlich in der Sonne einen Tee trinke und mein 15° warmes Istanbul  im Januar genieße, treffe ich eine italienische Freundin wieder: „Marcella, na? Wie waren deine Klausuren?“, das Mädchen, das für ihre Verplantheit berüchtigt ist, grinst mich an, kneift ihre Augen zum Schutz vor der grellen Sonne zusammen und antwortet: „Also, die erste war richtig beschissen…. Und die zweite, da habe ich nach 10 min abgegeben.“ „Wow, das war schnell. So gut?“ „Nö, ich wusste nichts und hab ein leeres Blatt abgeben.“ Man adaptiert sich hier schnell im Chaosmanagement.
Ich will nicht normativ wirken, aber solches Verhalten muss jeden engagierten Lehrer und jede engagierte Lehrerin doch auf die Palme bringen.  Vielleicht wirken deshalb einige Lehrkräfte entkräftet und saftlos.
Ein Grund mehr bald Goodbye zu sagen. Ja, ich werde Istanbul bald verlassen. Um mir den Abschied aus dieser Stadt leichter zu machen, versuche ich schon seit Tagen  einzureden, dass ich froh sein werde, das hier alles hinter mir zu lassen. Endlich neuen Abenteuern begegnen! Doch letztlich wird es dennoch alles andere als leicht, mich aus den Fängen Istanbuls zu lösen. Aber ich muss. Ich muss.  

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