Sonntag, 9. Dezember 2012

Die Stadt lieben und Telefondienste hassen lernen


Beweisfoto

Ich hätte es kommen sehen müssen. Meine Uhr blieb stehen.  Genau auf 9 Uhr und 5 min. Das ist hier keine gewöhnliche Zeit. Das ist die Uhrzeit von Atatürks Tod. Sämtliche Uhren, die mit ihm in Verbindung gebracht werden, sind auf diese Uhrzeit eingestellt. Genauso auch die Menschen: Jedes Jahr am  10. November um 09:05 Uhr wird der Lärm der Türkei unter dem Geräusch von Sirenen unterbrochen. Darauf folgt Stille. Das Leben steht. Die Autos halten an, die Menschen hören auf zu sprechen, halten inne und gedenken. Das gesamte Leben in der gesamten Türkei scheint wie eingefroren. Nach einigen Minuten des Gedenkens an den (Über-)Vater der Nation wird anschließend salutiert und das Alltagsleben nimmt wieder seinen Lauf.
Mit dem mir bekannten Hintergrundwissen um diese kulturell-historisch wichtige Uhrzeit, bin ich beim Anblick meiner Uhr ein klein wenig erschrocken. Ein klein wenig gespenstisch ist das ja schon, dass es von 1440 möglichen Minuten genau diese geworden ist. Es sollte wohl ein Zeichen sein. Denn die darauffolgende Zeit war geprägt vom Verlust einiger Technologien. Zuerst zerspringt mir das Display meines mp3-Players bei meinem hier erwähnten Sprung aus einem fahrenden Bus gegen eine Straßenlaterne, dann habe ich anhaltende Probleme mit meiner häuslichen Internetverbindung, die mich zwangen mein Smartphone als Internetportal zu nutzen und schließlich ging auch das nicht mehr, weil mir der Telefonzugang gesperrt wurde. Um ein internetfähiges Gerät aus dem Ausland zu nutzen, muss man dieses bei einer Behörde für ein Trinkgeld von 100 TL (45€) entsperren. Hab ich auch brav gemacht. Doch statt unbegrenzt freigeschaltet zu sein, hat mir mein Provider jetzt erneut mein komplettes Telefon- und Internetnetz gesperrt und bittet mich freundlich nochmals 100 TL zu zahlen.
Ein paar Tage ohne Handy und Internet scheint ja für einige ziemlich reizvoll zu sein – aber nicht hier. Je mehr Menschen es in einer Stadt gibt, umso notwendiger wird es mit diesen auf virtuelle Weise zu kommunizieren.
Aber das hilft ja jetzt auch alles nichts. Ich gehe in ein Internetcafe, schreibe dort Freunde an, um zumindest die wichtigsten Telefonkontakte physikalisch bei mir zu haben und verliere natürlich gleich im Anschluss genau diesen Zettel mit all den Nummern. Ja, ich weiß schon, warum ich alles normalerweise immer digital abspeichere…
Die verrückteste Straße der Welt - Istiklal, Istanbul
Mit leeren Händen ziehe ich also los. Ab ins Getümmel. Auf zum Taksim Square. Auf zur Istiklal. Eine Straße mit 3 km Länge an der das Nachtleben tobt. Und wenn ich schreibe „tobt“, dann meine ich das auch so! Aus dem Häuserblocks der Straßen krachen die Lautsprecher und überlagern sich mit dem Gegröle der längst betrunkenen Menschen, die auf der Straße herumgeschoben werden. Samstagsabends kann man hier nicht mehr laufen – man wird nur noch nach vorne geschoben. Und so kämpft man sich den Weg in eine der vielen Seitengassen, wo es endlich leerer und die Leute noch voller werden. Ist Alkohol im Koran nicht verboten? Naja, an dieser Stelle scheint der Spaßfaktor der Leute und die Profitaussichten der Unternehmer eine deutlich wichtigere Rolle als der Glaube zu spielen. Glaube war ja irgendwie schon immer ambivalent.  Und so glaube ich auch „ganz, ganz dolle“, dass die Todeszeit Atatürks kein schlechtes, sondern vielleicht auch ein gutes Zeichen war. Ich verfahre deswegen nach der alten Weisheit:  Wenn das Glück nicht zu dir kommt, dann musst du zum Glück gehen.
Diesem Motto folgend, treibe ich mit den Massen an Menschen auf der Istiklal. Alleine und ohne Verabredung. Aber wer in der Istiklal alleine loszieht, der bleibt nicht lange allein. Schnell finde ich alte, aber vor allem viele neue Freunde. Irgendwie ist es halt doch ein Dorf. Ein Dorf, dessen Schönheit erst im Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz sichtbar wird. Dessen räumliche Entfernungen einen verzweifeln lassen und gleichzeitig die Möglichkeit eröffnen jeden Tag etwas Neues zu entdecken. Dessen islamische Gebetsrufe um 5 Uhr morgens einem ziemlich auf den Wecker gehen können und doch einen Moment der Harmonie und Synchronisation der ganzen Stadt entstehen lassen. Ein Dorf, dessen Müllberge und Hinterlassenschaften eines gewöhnlichen Samstagsabends in Istiklal einen erschaudern lassen müssten, aber einen irgendwie doch auf den zweiten Blick so unglaublich heimisch fühlen lassen. Ja, das ist mein Istanbul, mein Müllberg. 

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