Beweisfoto |
Ich hätte es kommen sehen müssen. Meine Uhr blieb
stehen. Genau auf 9 Uhr und 5 min. Das
ist hier keine gewöhnliche Zeit. Das ist die Uhrzeit von Atatürks Tod.
Sämtliche Uhren, die mit ihm in Verbindung gebracht werden, sind auf diese
Uhrzeit eingestellt. Genauso auch die Menschen: Jedes Jahr am 10. November um 09:05 Uhr wird der Lärm der
Türkei unter dem Geräusch von Sirenen unterbrochen. Darauf folgt Stille. Das
Leben steht. Die Autos halten an, die Menschen hören auf zu sprechen, halten
inne und gedenken. Das gesamte Leben in der gesamten Türkei scheint wie
eingefroren. Nach einigen Minuten des Gedenkens an den (Über-)Vater der Nation
wird anschließend salutiert und das Alltagsleben nimmt wieder seinen Lauf.
Mit dem mir bekannten Hintergrundwissen um diese
kulturell-historisch wichtige Uhrzeit, bin ich beim Anblick meiner Uhr ein
klein wenig erschrocken. Ein klein wenig gespenstisch ist das ja schon, dass es
von 1440 möglichen Minuten genau diese geworden ist. Es sollte wohl ein Zeichen
sein. Denn die darauffolgende Zeit war geprägt vom Verlust einiger
Technologien. Zuerst zerspringt mir das Display meines mp3-Players bei meinem
hier erwähnten Sprung aus einem fahrenden Bus gegen eine Straßenlaterne, dann
habe ich anhaltende Probleme mit meiner häuslichen Internetverbindung, die mich
zwangen mein Smartphone als Internetportal zu nutzen und schließlich ging auch
das nicht mehr, weil mir der Telefonzugang gesperrt wurde. Um ein
internetfähiges Gerät aus dem Ausland zu nutzen, muss man dieses bei einer
Behörde für ein Trinkgeld von 100 TL (45€) entsperren. Hab ich auch brav
gemacht. Doch statt unbegrenzt freigeschaltet zu sein, hat mir mein Provider
jetzt erneut mein komplettes Telefon- und Internetnetz gesperrt und bittet mich
freundlich nochmals 100 TL zu zahlen.
Ein paar Tage ohne Handy und Internet scheint ja für einige
ziemlich reizvoll zu sein – aber nicht hier. Je mehr Menschen es in einer Stadt
gibt, umso notwendiger wird es mit diesen auf virtuelle Weise zu kommunizieren.
Aber das hilft ja jetzt auch alles nichts. Ich gehe in ein
Internetcafe, schreibe dort Freunde an, um zumindest die wichtigsten Telefonkontakte
physikalisch bei mir zu haben und verliere natürlich gleich im Anschluss genau diesen
Zettel mit all den Nummern. Ja, ich weiß schon, warum ich alles normalerweise immer
digital abspeichere…
Die verrückteste Straße der Welt - Istiklal, Istanbul |
Mit leeren Händen ziehe ich also los. Ab ins Getümmel. Auf zum Taksim Square. Auf zur Istiklal. Eine Straße mit 3 km Länge an der das Nachtleben tobt. Und wenn ich
schreibe „tobt“, dann meine ich das auch so! Aus dem Häuserblocks der Straßen
krachen die Lautsprecher und überlagern sich mit dem Gegröle der längst
betrunkenen Menschen, die auf der Straße herumgeschoben werden. Samstagsabends
kann man hier nicht mehr laufen – man wird nur noch nach vorne geschoben. Und
so kämpft man sich den Weg in eine der vielen Seitengassen, wo es endlich
leerer und die Leute noch voller werden. Ist Alkohol im Koran nicht verboten? Naja,
an dieser Stelle scheint der Spaßfaktor der Leute und die Profitaussichten der
Unternehmer eine deutlich wichtigere Rolle als der Glaube zu spielen. Glaube
war ja irgendwie schon immer ambivalent. Und so glaube ich auch „ganz, ganz dolle“,
dass die Todeszeit Atatürks kein schlechtes, sondern vielleicht auch ein gutes
Zeichen war. Ich verfahre deswegen nach der alten Weisheit: Wenn das Glück nicht zu dir kommt, dann musst
du zum Glück gehen.
Diesem Motto folgend, treibe ich mit den Massen an Menschen auf der Istiklal. Alleine und ohne Verabredung. Aber wer in der Istiklal alleine loszieht,
der bleibt nicht lange allein. Schnell finde ich alte, aber vor allem viele neue Freunde. Irgendwie ist es halt doch ein Dorf. Ein Dorf,
dessen Schönheit erst im Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz sichtbar wird. Dessen
räumliche Entfernungen einen verzweifeln lassen und gleichzeitig die
Möglichkeit eröffnen jeden Tag etwas Neues zu entdecken. Dessen islamische
Gebetsrufe um 5 Uhr morgens einem ziemlich auf den Wecker gehen können und doch
einen Moment der Harmonie und Synchronisation der ganzen Stadt entstehen lassen.
Ein Dorf, dessen Müllberge und Hinterlassenschaften eines gewöhnlichen
Samstagsabends in Istiklal einen erschaudern lassen müssten, aber einen irgendwie doch auf
den zweiten Blick so unglaublich heimisch fühlen lassen. Ja, das ist mein
Istanbul, mein Müllberg.
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