Montag, 3. Dezember 2012

Im Kreise des Systems



Im Durchdringen des Systems Sozialität trifft man immer wieder auf sich aufwerfende Fragen:  Woher kommt es, dass die Gesellschaft hier so homophob ist? Warum scheinen Geschlechterrollen in Stein gemeißelt? Woher kommt dieses absurde Verlangen nahestehende Individuen als schützenswerter Eigentum zu betrachten? Folgeerscheinungen einer Sozialisierung.
Begeben wir uns auf eine Reise. Sie führt uns die meine unmittelbare Umgebung: meine Nachbarn. Ich habe sie ja noch nie gesehen, da ich als Europäer in einem islamischen Viertel nicht gerne gesehen werde, mich meine Mitbewohnerin bei den Hausbewohnern leugnet und ich deshalb nur under-cover hier wohne und nicht mal die Tür öffnen darf. Aber ich brauche meine Nachbarn nicht zu sehen, um zu verstehen, wie ihre Kinder erzogen werden. Das höre ich ganz gut durch die Pappwände.
"Mädchen tragen rosa"
Meine Nachbarn folgen dem einfachen Prinzip: Wer am lautesten schreit gewinnt. Diese Politik führt vor allem in Interaktion mit ihren 5-jährigen Kindern zu täglichen Schrei-Wettbewerben. „Deniz, du verstehst ja, was die da brüllen. Ist das das Erziehungsideal?“, frage ich sie. „Uffya“, zischt sie den typisch türkischen Laut, um präventiv Dampf abzulassen. „Was die türkische Erziehung auszeichnet? Mh, ich denke vor allem ein Fehlen von Vertrauen. Kinder werden eigentlich immer bevormundet. Sie sind zart, verletzlich und können nichts alleine, deswegen muss ihnen immer und überall klar gemacht werden nach welchen Regeln hier gespielt wird: den Regeln der Erwachsenen. Das Problem ist, dass Kinder diese Standards nicht erreichen können und deswegen daran scheitern müssen.“ Ich nicke ihr zu und bin mir nicht ganz sicher, ob ich verstehe auf was sie hinauswill. „Die türkische Jugend ist davon geprägt kein Selbstvertrauen zu haben. Das merkst du ja selbst in der Uni: Die bekommen alles vorgekaut und schonend zubereitet auf den Tisch gelegt. Ich glaub bei euch in Europa wird da kritischer gedacht.“ – „Naja, zumindest sind wir dazu angehalten nicht alles bare Münze zu nehmen.“ – „Ja genau, das mein ich. Hier aber muss man nicht denken, sondern macht einfach nur nach, was andere schon gemacht haben. Weil man hier kein Vertrauen zu sich selbst entwickeln kann, wird sich an alte, haltgebende Strukturen geklammert: Religion und Familie. Ich möchte nicht sagen, dass das schlecht ist, aber hier in der Türkei wird es so radikalisiert: Religion sowieso, klar, und Familie – Familie ist schon jeher ein schützendes Gut gewesen hier. Warst du schon mal mit einem türkischen Mädel aus?“. Leicht überrascht von der spontanen, für mich zusammenhangslosen Frage, antworte ich: „Ähm, ne. Hat sich irgendw…“ – „Ja, dacht ich mir: Weil türkische Mädels und Jungs sind hier strikt getrennt. Für mich ist das bis heute ein Problem, weil ich gerne mit Jungs rumhänge. Und du siehst ja auch: ich hab DICH als Mitbewohner.“ Hach, welche eine Ehre. „Und wenn jemand versucht mit dem anderen Geschlecht in Kontakt zu treten, dann bricht das gleich ne Welle aus: da kommt der Bruder, dann der Vater, dann der Onkel – alle wollen sie nach dem Rechten schauen. Oh Gott, wenn meine Eltern zum Beispiel wüssten, dass ich mit DIR zusammen wohne!“ Aha, ist das jetzt positiv oder negativ? Aber sie spricht weiter: „Auch die Eifersucht von Paaren und das ständige Misstrauen, wenn man mal mit jemand anderem unterwegs ist und das Tabu einer homosexuellen Lebensform. - Das hängt alles zusammen. Alles mit dem fehlenden Vertrauen, was Kindern in der Erziehung nicht gegeben wird. Alle so engstirnig!“. In Gedanken versunken schütteln wir beide resignierend den Kopf und träumen uns in unser idealisiertes Europa, wo aus der Ferner alles so einfach zu sein scheint.

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