Als gäbe es hier was umsonst: Das Lose-Verkaufsgeschäft |
„Pardon, ich muss mal durch“, ruft ein Mann von hinten in
der Straßenbahn und kämpft sich dabei seinen Weg durch die Menschen. Nichts Außergewöhnliches
eigentlich. Aufmerksam werde ich erst, als das plötzlich von allen Menschen um
mich herum wiederholt wird. Anscheinend will hier irgendwie jeder an der
nächsten Station aussteigen. „Entschuldigung, darf ich mal durch?“ – „Nein, ich
muss auch raus. Und ich war zuerst hier.“ Unbekannt harsche Töne werden auf einmal
angeschlagen. Irgendwas muss hier sein. Ich werde mitaussteigen, aber ehrlich
gesagt habe ich auch keine andere Wahl, denn hinter mir hat sich ein Bulk
gebildet, der mich einfach durch die Tür schiebt. Gerne hätte ich 2 Sekunden
Zeit gehabt, um überhaupt zu wissen, wo ich hier gerade aussteige, aber ich
werde weiter nach vorn geschoben. Als die Masse die Straßenbahnstation verlässt,
beginnt die Front sogar zu rennen. ‚Was ist hier denn eigentlich los?‘, frage
ich mich und fühle mich ein wenig hilflos in der immer wilder werdenden Gruppe.
Da vorne scheint ihr Ziel zu sein. Eine Menschenschlange von ca. 100 Metern.
Eine Schlange, die einmal über den ganzen Platz reicht. Im Regen, wohlgemerkt. |
Aber das Chaos endet dort auch. Gepflegt, als ob ihre Mutti
neben ihnen stehen würde, reihen sich die Leute in die Schlange ein. Ganz ohne
Drängeln, so ist’s brav. Als ich langsam näher komme, begegnen mir schon die
ersten Gestalten mit witzigen Mützen und einer riesigen Trommel voller Lose.
Die gibt’s eigentlich überall in Istanbul, aber hier scheint ein richtiges Nest von ihnen zu sein. Ich finde heraus, dass alle Menschen auch genau für diesen Zweck anstehen:
ein Jahreslos kaufen. „Aber warum machen die Leute das? Und war zur Hölle sind
die so scharf darauf?“ frage ich später meine Türkischlehrerin. Sie lacht und
sagt: „Ja, das ist die Jahreslotterie! Du solltest auch ein Los kaufen! Das
bringt Glück für’s neue Jahr.“ „Die Jahreslotterie? Was kostet so ein Ding
denn?“ – „Ich glaube 10 Euro.“ Ich verschlucke mich wie in einem Film und
antworte glucksend: „Was? 10 Euro? Für ein Los? Wie viele Gewinner gibt es
denn?“ – „ Eigentlich nur einen. Aber man kann auch nur ¼ Los kaufen und
bekommt dann auch nur ¼. Also die meisten kaufen eigentlich gleich so ein Bazen
voll.“
Am gleichen Abend erzähle ich Deniz davon, auch sie muss
über diese Tradition grinsen. „Jaja, das ist hier so. Die sind alle so verrückt
danach. Du solltest mal meinen Vater kennenlernen,“ – ich dachte das sollte ich
eben nicht? – „…der kauft diese Teile Schuhkartonweise. Es ist wirklich
unglaublich. Und seit er weiß, dass ich im Viertel Eminönü arbeite, ruft er
mich manchmal an, um von dort Lose zu holen.“ – „Das ist doch der Ort, wo ich
heute war, oder? Nimet Abla. Die Lose kann man doch überall kaufen? Warum also
stürmen Menschen aus einer Straßenbahn in den Regen, um sich dort eine Stunde
lang in eine über 100m lange Schlange zu stellen, um 10€ für ein Los zu zahlen,
mit dem sie zu 99.99% nichts gewinnen?“ Deniz will gar nicht recht zuhören, als
hätte sie sich selbst schon oft genug darüber geärgert und puzzelt ihr Puzzle
weiter. Dann schüttelt sie langsam den Kopf, als hätten ihre Gedanken den Siedepunkt
erreicht, an dem sie ausgesprochen werden müssten. „Weil sie dumm sind,
Benjamin. Weil sie einfach dumm sind. Ich meine immer: er soll mir lieber ein
iPhone kaufen mit dem Geld, dass er dort rauswirft. Aber das ist halt seine
Leidenschaft… Und dieser Laden ’Nimet Abla‘ ist aus irgendwelchen Gründen
besonders begehrt. Frag mich nicht. Aber ich glaube, ich will auch gar nicht
wissen warum… So was ist einfach nur bescheuert“. Hups, habe ich hier alte
Familiengräben wieder aufgedeckt? Scheint so. Ich schweige besser und verstehe:
Wer das Schicksal herausfordert, der setzt nicht nur seine Vernunft aufs Spiel.
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