Montag, 17. Dezember 2012

Zum Glück muss man Anstehen

Als gäbe es hier was umsonst: Das Lose-Verkaufsgeschäft
„Pardon, ich muss mal durch“, ruft ein Mann von hinten in der Straßenbahn und kämpft sich dabei seinen Weg durch die Menschen. Nichts Außergewöhnliches eigentlich. Aufmerksam werde ich erst, als das plötzlich von allen Menschen um mich herum wiederholt wird. Anscheinend will hier irgendwie jeder an der nächsten Station aussteigen. „Entschuldigung, darf ich mal durch?“ – „Nein, ich muss auch raus. Und ich war zuerst hier.“ Unbekannt harsche Töne werden auf einmal angeschlagen. Irgendwas muss hier sein. Ich werde mitaussteigen, aber ehrlich gesagt habe ich auch keine andere Wahl, denn hinter mir hat sich ein Bulk gebildet, der mich einfach durch die Tür schiebt. Gerne hätte ich 2 Sekunden Zeit gehabt, um überhaupt zu wissen, wo ich hier gerade aussteige, aber ich werde weiter nach vorn geschoben. Als die Masse die Straßenbahnstation verlässt, beginnt die Front sogar zu rennen. ‚Was ist hier denn eigentlich los?‘, frage ich mich und fühle mich ein wenig hilflos in der immer wilder werdenden Gruppe. Da vorne scheint ihr Ziel zu sein. Eine Menschenschlange von ca. 100 Metern.
Eine Schlange, die einmal über den ganzen Platz reicht. Im Regen, wohlgemerkt.
Aber das Chaos endet dort auch. Gepflegt, als ob ihre Mutti neben ihnen stehen würde, reihen sich die Leute in die Schlange ein. Ganz ohne Drängeln, so ist’s brav. Als ich langsam näher komme, begegnen mir schon die ersten Gestalten mit witzigen Mützen und einer riesigen Trommel voller Lose. Die gibt’s eigentlich überall in Istanbul, aber hier scheint ein richtiges Nest von ihnen zu sein. Ich finde heraus, dass alle Menschen auch genau für diesen Zweck anstehen: ein Jahreslos kaufen. „Aber warum machen die Leute das? Und war zur Hölle sind die so scharf darauf?“ frage ich später meine Türkischlehrerin. Sie lacht und sagt: „Ja, das ist die Jahreslotterie! Du solltest auch ein Los kaufen! Das bringt Glück für’s neue Jahr.“ „Die Jahreslotterie? Was kostet so ein Ding denn?“ – „Ich glaube 10 Euro.“ Ich verschlucke mich wie in einem Film und antworte glucksend: „Was? 10 Euro? Für ein Los? Wie viele Gewinner gibt es denn?“ – „ Eigentlich nur einen. Aber man kann auch nur ¼ Los kaufen und bekommt dann auch nur ¼. Also die meisten kaufen eigentlich gleich so ein Bazen voll.“
Am gleichen Abend erzähle ich Deniz davon, auch sie muss über diese Tradition grinsen. „Jaja, das ist hier so. Die sind alle so verrückt danach. Du solltest mal meinen Vater kennenlernen,“ – ich dachte das sollte ich eben nicht? – „…der kauft diese Teile Schuhkartonweise. Es ist wirklich unglaublich. Und seit er weiß, dass ich im Viertel Eminönü arbeite, ruft er mich manchmal an, um von dort Lose zu holen.“ – „Das ist doch der Ort, wo ich heute war, oder? Nimet Abla. Die Lose kann man doch überall kaufen? Warum also stürmen Menschen aus einer Straßenbahn in den Regen, um sich dort eine Stunde lang in eine über 100m lange Schlange zu stellen, um 10€ für ein Los zu zahlen, mit dem sie zu 99.99% nichts gewinnen?“ Deniz will gar nicht recht zuhören, als hätte sie sich selbst schon oft genug darüber geärgert und puzzelt ihr Puzzle weiter. Dann schüttelt sie langsam den Kopf, als hätten ihre Gedanken den Siedepunkt erreicht, an dem sie ausgesprochen werden müssten. „Weil sie dumm sind, Benjamin. Weil sie einfach dumm sind. Ich meine immer: er soll mir lieber ein iPhone kaufen mit dem Geld, dass er dort rauswirft. Aber das ist halt seine Leidenschaft… Und dieser Laden ’Nimet Abla‘ ist aus irgendwelchen Gründen besonders begehrt. Frag mich nicht. Aber ich glaube, ich will auch gar nicht wissen warum… So was ist einfach nur bescheuert“. Hups, habe ich hier alte Familiengräben wieder aufgedeckt? Scheint so. Ich schweige besser und verstehe: Wer das Schicksal herausfordert, der setzt nicht nur seine Vernunft aufs Spiel.

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