Donnerstag, 6. September 2012

Chronisch europäisch



 Ich denke bei der Vorstellung von Abendveranstaltungen merkt man am allerschnellsten, wenn zwei Kulturen aufeinander prallen. Genau das geschah heute in einem griechisch anmutenden und türkisch bezeichneten Restaurant am Rande Ankaras. Über die abgezählten 5 Pommes mit 1 Tomatenscheiben und  drei trockenen, daumendicken Fleischstücken für 15 Lira wollen wir gar nicht reden, sondern gleich zur Beschäftigung nach dem Essen springen. „Liebe Gäste, die nächsten paar Songs sind extra für euch“ haucht ein Mann in sein Mikrofon auf der provokativ direkt vor uns platzierten Bühne. Er sitzt an einem Keyboard, während neben ihm die Sängerin gerade ihren Platz einnimmt.
Die haben jetzt nicht ernsthaft eine Band für uns engagiert, oder? Oh doch. Ein wenig irritiert, ob wir uns jetzt davon angesprochen fühlen müssen oder nicht, sitzen wir noch an unserem Tischen und suchen auf dem leerwirkenden Teller nach Essbarem. Nachdem die Sängerin ihr erstes Lied beendet hat, klatscht der Nachbartisch bestehend aus drei verschiedenen türkischen Familien mit voller Inbrunst, wir stimmen verhalten mit ein und fragen uns leicht genervt, ob wir das jetzt nach jedem gespielten Lied machen müssen. Nur 2 Lieder dauert es bis die ersten Personen vom Nachbartisch gut erheitert mitsingen und schließlich zum Tanzen aufstehen. Okay, gut, wir können kein türkisch, wir kennen das Lied nicht, wir dürfen sitzenbleiben und weiter den Anisschnaps Raki schlürfen. Klingt logisch, klingt gut. Doch nach 6 Liedern erhebt die Band nochmals die Stimme: „Liebe europäische Gäste, ihr dürft auch gerne tanzen“. Betretendes Schweigen, es wird versucht diese Sätze zu überhören und sich an seinem Getränk festzuklammern. 
Der Nachbartisch ist bereits in Oktoberfestlaune und hat sich bereits in alt-analatonischer Laune ineinander eingehakt um den typischen türkischen Tanz gemeinsam zu machen. Ich frage verhalten in unsere Runde: „Wollt ihr da jetzt vorgehen?“ – „Oh Gott nein! Dafür muss ich erst noch ein bisschen… vielleicht mehr als nur ein bisschen trinken“. Ja, das hört sich doch sehr europäisch an. Der Bandleader unternimmt einen letzten Versuch: „Ich habe auch einige europäische Lieder dabei. Ich bin mir sicher das gefällt euch besser!“. „Oh Gott, was macht er denn jetzt?“, denke ich als er auf einen Knopf auf seinem Keyboard drückt, der amerikanische 90er Jahre Popmusik heraufbeschwört. Die bereits zum Tanz aufgestellte türkische Familie kann es nicht fassen: „Was ist das denn jetzt? Spielt den Volkstanz!“ Doch zu spät. Der Knopf wurde gedrückt. Es gibt kein Zurück mehr. Die nächsten 3min fegt der 90er Jahre Pop auch noch die letzten türkischen Tanzbeine von der Fläche. Es sollte der Stimmungswendepunkt des Abends sein. Irritiert, dass sich nach zweimaliger Aufforderung keiner der steifen Europäer zum Tanz bewogen und gleichzeitig die einzigen (türkischen) Fans verloren hat, zieht die Band spürbar beleidigt in die Pause. Mittlerweile hat sich der Tisch bereits aufgesprengt. Der Druck wurde zu groß. Es bildet sich auf der Veranda eine Art Rauchertisch, eine Zufluchtsstätte für chronische Europäer und Freunde des Smalltalks abseits der anderen. Einige bevorzugten auch die romantische Variante und nehmen sich zu zweit eine Auszeit mittels eines Spaziergangs unter dem Sternenhimmel Ankaras. Unter dem Vorwand der türkischen Kultur Oktruktion zu entfliehen, hat man hier die Möglichkeit sich erstmals besser kennenzulernen.
Ich selbst bevorzuge Variante c: Zwischen den Standorten oszillieren und nirgends für zugehörig gehalten werden. Kultureremit. Chronisch europäisch. 

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