Sonntag, 23. September 2012

The Darkside of Istanbul



Mein Herz rast, doch ich kann klar denken. Ruhe bewahren. Jetzt einfach Ruhe bewahren. „David, kannst du mich hören? David?“ In meinen Armen halte ich meinen britischen Freund David. Er krampft und zuckt. Ein echter epileptischer Anfall. Was macht man bei so was? Ich halte ihn einfach nur fest und hoffe, dass alles gut wird, dass es gleich zu Ende ist. Überall um mich herum sind Stimmen, überall sind Hände. Von hinten greift eine Hand nach seiner Nase und hält sie fest. Ich verstehe nicht. Dann sehe ich, dass der Mann erzwingen will, dass David seinen Mund öffnet, um im dann in diesem Moment etwas in den Mund zu legen, damit er nicht bei seinen Krämpfen auf seine Zunge beißt. Ich blicke um mich. Überall herum schockierte, schaulustige oder besorgte Menschen. Ein wirrer Sprachmix aus Englisch, Deutsch, Französisch, Türkisch, Kurdisch umgibt uns und lässt eine Atmosphäre von Ratlosigkeit entstehen.

Und das ausgerechnet hier. Ausgerechnet in der gefährlichsten Straße von ganz Istanbul: Tarlabasi. Selbst die Taxifahrer haben sich geweigert hier herzufahren. „Weiter fahre ich nicht. Ich findet den Weg sicher alleine“. Wie beruhigend, dass das die neue Wohngegend zweier Freundinnen sind und wie beruhigend, dass sie weibliche Europäerinnen sind, die sowie so hier den Ruf einer Livestyle-Prostituierten haben. Um uns herum gesellen sich langsam auch deutschsprachige Türken. Während David langsam wieder entkrampft und er von einer besorgten türkischen Frau eine Flasche Wasser ins Gesicht geschüttet bekommt, müssen wir einige kritische Fragen anhören: „Was macht ihr überhaupt hier?! Das ist kein Gebiet für Leute wie euch! Nicht mal ich bin hier gerne! Selbst ich wurde hier vor 2 Tagen in meinem Schlafzimmer ausgeraubt! Die kennen hier nichts!“. Als er dann erfährt, dass einige von uns hier wohnen werden, hat er uns vollständig für verrückt erklärt. Ich schaue mich um und gebe ihm Recht. Hier zu wohnen, ist mehr als fahrlässig.
Aber ich habe gerade andere Probleme um die ich mich kümmern muss: „David. Kannst du mich hören?“. Zumindest kann er meine Fragen mittlerweile mit einem verwirrten Nicken beantworten. Es wird noch einige Minuten, bis er wieder sprechen kann. In der Zwischenzeit erfahren wir, dass die umstehenden Leute zwar einen Krankenwagen gerufen haben, doch dieser zu 90% nicht kommen wird. „Die sagen zwar, dass sie kommen, aber ich habe hier noch nie einen Krankenwagen kommen sehen. Ihr nehmt besser ein Taxi.“
Wir fahren zu einem örtlichen Krankenhaus, um David durchchecken zu lassen. Vor der Notaufnahme warten 20 Leute. Für die auf Hilfe wartenden Patienten ist ein einziger Arzt beschäftigt, dessen Sekretär uns kurz vermittelt, dass ein kurzer Check 250€ kosten wird. Auf einmal werden alle wartenden Notfall-Patienten vor die Tür schickt, weil ein schwer blutender Mann eingeliefert wird. Es geht um Leben und Tod. Ja, das ist Tarlabahsi.
Wir ziehen es vor keine 6 Stunden in einer Notaufnahme zu warten und gehen zu einem deutschen Krankenhaus um die Ecke. Nach 2 Stunden, einem Bluttest, einem EKG, einer Infusion und stolzen 450€ weniger auf dem Konto, werden wir wieder heimgeschickt. Es kann nichts gefunden werden. Alles ok. Kein Herz-Auffälligkeiten. Es muss sich um eine stressbedingte Reaktion gehandelt haben. Ich will nicht weiter darüber nachdenken. Er sagt, dass alles gut ist, also will ich vertrauen. Zumindest den Ärzten hier will ich vertrauen können. Allen anderen Menschen misstraue ich hier auf tiefste! Jede Freundlichkeit scheint hier eine Falle zu sein, jedes Lächeln eine billige Flirtstrategie, jedes „Herzlich Willkommen“ ein Verkaufstrick. Der deutschsprachige Türke, der uns auf der Straße noch vor diesem Viertel gewarnt hat, begann im Taxi bereits seltsame Fragen zu stellen. „Ja diese Damen da, wohnen die etwas hier alleine? Sind die verheiratet?“. Spätestens bei der Frage: „Wann kommen die denn als so nach Hause oder gehen aus dem Haus?“ waren bei mir alle Warnsignale aktiviert. Ich versuche mich ungeschickt durch sein Verhör zu schlängeln ohne mein Misstrauen und meine bewussten Lügen offensichtlich werden zu lassen. Mit jeder Minute wurde ich unruhiger und fragen durchquerten meinen Kopf: „Warum will er wissen, ob wir Zuhause ein Auto fahre? Wie kommt er auf so eine Frage? Würde er sich für Autos interessieren, würde er fragen welche Marken ich mag. Aber so will er vermutlich nur wissen, wie viel Geld bei uns zu holen ist! Ich kann ihm nicht trauen! Und dann fragt er ständig nach unserer Adresse! Er will die Adresse haben, wo die Mädels wohnen. Und dann diese Frage, ob wir hier Leute kennen. Ich habe ihm versucht vorzuspielen, dass wir in der Stadt verteilt viele Freunde haben, nicht nur Bekannte. Auch viele Türken. Oh Gott, hoffentlich hat er mir das jetzt geglaubt“. Ich schaue an meinem Körper herunter und bemerke, dass ich mittlerweile mehr zittere als David, der es sich in seinem Krankenbett mit der Infusion langsam wieder erholt. Angst ist ein Wort, das diesen Zustand nicht zutreffend beschreiben kann. Es ist mehr als das. Ich habe das Gefühl potentiellen Kriminellen in die Hände zu spielen, meine Aussagen können über ihre Gesundheit entscheiden. Der Schlüssel liegt in der Wahl meiner Worte. „Ich denke, dass kann jetzt eine Weile gehen. Ich danke euch für eure Hilfe, aber ich glaube ihr könnt gehen. Ihr müsst nicht hierbleiben.“ Höfflich aber bestimmt vertreibe ich die zwei Jungs und rufe anschließend die Mädels an, dass sie sich von Türen und Fenstern fernhalten sollen. Ein klein wenig stolz, dass diese kurze Aktion die Situation vorzeitig beendigt, sinke ich sichtlich gelassener in meinem Stuhl.
Es ist 1:10 Uhr als der Taxifahrer uns an einer nahe gelegenen Straße herauslässt. Langsam schreiten wir durch die sich leerenden Straßen von Tarlabasi. „Bloß keine Angst anmerken lassen“, flüstere ich David zu, doch in Wirklichkeit ist es an mich selbst gerichtet. Mit Adleraugen durchsuche ich die Umgebung nach potentiellen Gefahren. Nur einige Jugendliche, die mit sich selbst beschäftigt sind. Aus einer dunklen Ecke erscheint ein Mädchen, vielleicht 17 Jahre alt, das ein schreiendes Baby auf dem Arm hat. Sie hält es, als wäre es ihr ungeliebtes Spielzeug, welches sie zu ihrem Geburtstag bekommen hat. Die letzten 5 Meter schreitet sie geradewegs auf uns zu, schaut mir in die Augen, macht einen Satz nach vorne und schreit: „BUUU!“. Ich springe zur Seite, mein Blutdruck schießt in die Höhe, dass mir für einen Moment schwarz vor den Augen wird. Ich torkle weiter und versuche mir keine Angst anmerken zu lassen, während ich im Hintergrund das Lachen der Jugendlichen hören kann. „Hast du gesehen wie er gezuckt hat?“, vernehme ich noch hinter mir, doch wir haben bereits die Tür hinter uns zu gemacht. Endlich. Verriegelt. Diese Nacht werde ich mit einem Hammer neben dem Bett schlafen. Das ist sicher.

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