Das Gequake und Kants Antwort
„Öp, Öp!“ – „Öp, öp?“ – „Evet,
öp, öp.“
Was sich wie ein Gespräch
zwischen zwei quakenden Enten anhört, ist in Türkisch eine
Verabschiedungsformel. Sie heißt so was wie „Küsschen, Küsschen“. Das Ding mit
diesen „Küsschen, Küsschen“ ist, dass wir als Europäer nie wissen wie das jetzt
gemeint ist. Wenn ein Unbekannter das jetzt nach einem kurzen Gespräch zu uns
sagt, ist das dann eine Art Anmache (vor allem gegenüber unseren Mädchen)? Oder
ist das kulturell so? Wo wird hier die kulturelle Grenze zur Privatsphäre
gezogen? Unter dem Mantel der Freundlichkeit ist anscheinend alles erlaubt.
Ich sitze hier gerade mit einem
Mesut (*Name geändert), den ich vor 10 min kennengelernt habe. Er hat gemerkt,
dass ich Deutsch spreche und freut sich endlich wieder deutsch sprechen zu
können, denn er hat ein Jahr lang in Deutschland studiert. Das Ding ist, hast
du so einen Kontakt erst mal in einem Gespräch, dann will er ALLES von dir.
„Können wir in Kontakt bleiben?“, ist die Standardformel, die ich derzeit
mehrmals am Tag höre. Stresstest für meinen Telefonspeicherplatz. Nach wenigen
Minuten hat er also meine Telefonnummer, meine Emailadresse und mein
Facebookprofil gefunden.
„Darf ich es auf Facebook
stellen?“- „Hä, was?“, frage ich, worauf er sein Smartphone hochhält und sagt:
„Ich habe gerade ein Bild von dir gemacht. Darf ich?“. Ich bin total verwirrt.
Leicht überfordert und mit der ständigem Frage im Kopf, ob das hier normal ist,
antworte ich stotternd: „Ääähm, ja“.
10 Sekunden später entdecke ich
ihn wildernd auf meinem Facebookprofil. Blink, Blink, Blink – Mesut hat soeben
5 ihrer Facebook-Beiträge, die ihn nicht betreffen sollten, geliked Es geht
gerade so weiter. „Was hast du da?“ fragt er mich, während ich mir meine
Universitätspapiere anschaue. „Aaah, ich kann dir das übersetzen. Da steht…“.
Das darunter alles auf Englisch steht, dessen Sprache ich durchaus mächtig bin,
wird dabei gekonnt ignoriert.
Blöderweise hat sich gerade
herausgestellt, dass er auch auf meiner Universität ist. „Ich kann dir helfen
bei Professoren zu reden“. „Danke, das ist nett, aber ich glaube ich bekomme
das alleine hin“. „Ja, also wann wollen wir uns dann treffen?“. Treffen? Oh
Gott. „Ich versuche das alleine hinzubekommen, Danke“. „Also wenn du
irgendwelche Probleme hast, dann kannst du jederzeit mich anzurufen. Wann hast
du am Montag fertig mit Uni?“. Zum Glück kann ich ehrlich sagen, dass ich meine
Unterlagen dafür nicht dabei habe und keine Ahnung habe. Hilfesuchend schweifen
meine Augen auf meinen Computerbildschirm. „Ich muss so machen, als würde ich
was Wichtiges lesen. Wie sonst kann ich ihn abschütteln? Vielleicht sollte ich
einfach aufstehen und gehen?“ denke ich und verlasse anschließend den Tisch mit
einem kurzen „Tschüß, ich muss dann“.
Am selben Abend werde ich 4 Mal
von ihm angerufen. Einmal sogar mit unterdrückter Nummer. Alle Anrufe bleiben
von mir unbeantwortet. Für mich hat er eindeutig eine Grenze zu viel
überschritten. Ich frage mich: „Liegt es an mir, dass ich damit nicht klar
komme? Ist das ein kulturelles Missverständnis? Triggern wir bei den Menschen
hier ein bestimmtes Verhaltensschema?“. Diese Situationen sind nicht einmalig.
Jeder meiner Erasmus-Freunde hat bereits ähnliches erlebt, doch wir sind
irritiert und ratlos. Wie kann man hier adäquat reagieren? Im Moment greifen
wir, in der Hoffnung, dass man sich in der größten Stadt Europas nur einmal
trifft, noch zu der altbewährten Methode des Ignorierens.
Doch ich habe jetzt beschlossen,
dass ich einen konkreten Schritt weiter gehen werde: Ich werde ab sofort
bewusst täuschen! Als Sicherheitsbarriere meiner Privatsphäre sozusagen. Ich
werde bei Facebook extra Sicherheitsregeln für neue Bekanntschaften einrichten,
ich werde ab sofort immer betonen, dass das mich begleitende Erasmus Mädchen
meine Freundin ist, und vortäuschen, dass ich noch keine türkische Handynummer
habe. Das klingt radikal, paranoid und unangemessen, aber es ist derzeit die
einzige Möglichkeit neuen Bekanntschaften nicht gleich den Vollzugriff auf mich
zu gewähren.
Die Türken haben eine ungeheure
Gastfreundlichkeit, das ist unbestritten, doch: In dieser Freundlichkeit
schaffen sie es leicht die Privatsphäre anderer zu überschreiten, ohne dass man
ihnen böse sein kann, denn sie wollen uns ja helfen. Dadurch konstruieren sie
ein stabiles Machtverhältnis vom Hilfsbedürftigen und dem Retter auf hohem
Ross. Was wäre an dieser Stelle passender als das Zitat von Immanuel Kant: „Die
Freiheit eines jenen beginnt dort, wo die Freiheit eines anderen aufhört“.
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