Samstag, 27. Oktober 2012

Benjamin abi!




Lang ist's her. Deutschland (1995)
Hier endet also mein Plan. In den Armen von Mehmet. Wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen? 5, 10 Jahre? „Nein, nein, kannst du dich nicht mehr erinnern? Es sind vielleicht 3 Jahre“, sagt er und zieht seine Augenbrauen in tiefe Falten als er sich daran erinnert. Mehmet hat vielleicht eine Hosenweite und ein paar Falten mehr bekommen, aber im Kern ist er noch der, den ich aus unseren ersten Türkeiaufenthalten kenne. Der deutschsprachige Animateur aus dem Hotel, der schnell ein Freund unserer Familie wurde, der über mehrere Jahre jeden Winter bei uns in Deutschland lebte und bei meinem Onkel arbeiten konnte und mit dem Geld, das er verdiente in seinem Ort ein Geschäft aufmachte, mit dem er erfolgreich werden sollte. Mehmet, eine gute Seele mit Schlitzohrcharakter.
Atatürk in Stein gemeiselt (Antalya)
„Los, steig‘ ein! Wir fahren gleich los. Meine Frau hat schon das Essen gemacht und es ist ein weiter Weg.“ Wir fahren aus Antalya heraus, der Stadt, über die Mustafa Kemal gesagt hat, dass sie wohl eines der schönsten Städte der Welt ist. Über diese kleine Randbemerkung sind die Antalyaner so stolz, dass sie sogleich einen Mount Atatürk erbauen mussten.
Mehmet wohnt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen (8) und (11) in einem Dorf nahe Kemer. Was vor 10 Jahren noch ein Dorf war, ist heute eine Schaubühne für Touristenpaläste. Die Hauptstraße gleicht einer Einkaufsmeile und bietet Platz für tausende von Menschen. An den Schaufenstern der Kleidergeschäfte hat sich auch einiges verändert. „Jaja, früher war hier vieles sogar noch auf Deutsch. Das kann man heute nicht mehr so oft finden. Aber russisch, ja, russisch ist heute überall. Mit Russen machen wir heute Geschäfte! Und auch morgen noch!“. Aber was mache ich hier eigentlich? Ich hoffe mal wieder auf ein Abenteuer. Ein paar Tage in einer türkischen Familie erleben, in der der einzige der türkisch oder englisch kann, so gut wie nie Zuhause ist, weil er sein Geschäft leiten muss. Ein paar Tage Verzweiflung. Vielleicht ist es das, was ich insgeheim suche. Denn nach wenigen Minuten merke ich bereits, dass meine Sprachkenntnisse einfach nicht ausreichen.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
„Was willst du denn hier machen?“, fragt mich Mehmet nach wenigen Minuten. „Keine Ahnung ehrlich gesagt. Gibt es denn hier etwas Schönes zu machen?“. „Also, naja. Wir haben hier das Meer. Aber das ist vielleicht jetzt ein bisschen kühl. Und sonst… Nein, sonst gibt es hier nichts“. „Mh, ok, ich werde vielleicht morgen ein bisschen die Gegend erkunden.“ „Kein Problem. Du kannst ein Auto von mir haben und ich gebe dir Melih mit. Er kann dir die Gegend zeigen und dir helfen.“ Und so entstand mein neuer Titel: Benjamin abi oder bey abi (großer Bruder Benjamin / Herr großer Bruder).
Aus dem 1-Mann-Projekt eines Reisenden wurde auf einmal ein Babysitter Job mit Verständigungsproblemen. Gleich nach 2 Stunden darf ich meine neue Berufung ausprobieren. „Wir sind noch bei den Nachbarn eingeladen. Wir kommen nachher wieder. Aber die Kinder können dir ja das Dorf zeigen und so.“ Aha, und wer passt jetzt auf wen auf? Zwei sich raufende Kinder zu beaufsichtigen ist kein Spaß, zwei sich raufende Kinder zu beaufsichtigen, deren Sprache man nicht spricht, macht es nicht besser und wenn diese zwei dann selbst eine rumstehende Axt als neues Spielzeug zum Kämpfen ausmachen, dann bekommt das alles einen sehr brenzligen Charakter.
Irgendwann kommt dann auch dieser Zeitpunkt, an dem man selbst Ziel ihrer Machtdemonstrationen wird. Was hält dieser Benjamin aus? Wie viel macht er mit? Ganz einfache Bestimmung der Hierarchie. Der Siedepunkt ist erreicht als sie mir so lange am Ohrläppchen ziehen bis nur noch ein lauter Schrei die Situation beenden kann. Nachdem die Ordnung der Dinge fürs erste wiederhergestellt ist, werde ich in die Eigentümlichkeiten des Dorflebens eingewiesen: Die Dorferkundungstour sieht so aus, dass ich Melihs (11) Elektroroller fahre, er hinter mir sitzt und die Richtung bestimmt, während ich sowohl den Roller als auch Semih (8) zwischen meinen Beinen im Gleichgewicht halten muss. Langsam vergesse ich, dass es in Europa üblich war einen Helm zu tragen. Sicherheit wird sowie so chronisch überbewertet. Nur ein Tipp bekomme ich von Mehmet, kurz bevor mich der 8-jährige Sohnemann anschließend mit Papas Auto zur Hauptstraße fährt: „Die Straßen können gefährlich sein. Wenn du grün hast, heißt das nicht, dass die anderen nicht fahren. Also immer schauen. Man kann hier nie wissen, was die anderen machen“. Ab hier soll/darf/muss ich selbst fahren. Mehmet will nicht, dass sein 11-jähriger Sohn auf den großen Straßen mit seinem Auto fährt. „Ach, das ist aber rücksichtsvoll“, denke ich und steige ein klein wenig nervös in die mit Erdgas betriebene Klappermühle, deren dritter Gang und  Tempo-Anzeige kaputt sind. Nun denn: Gute Fahrt! 

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