Mit halb geschlossenen Augen verlasse ich um 6:20 Uhr meine
Wohnung. Auf den Rücken mein gepackter Rucksack. Mal was verrücktes machen? Ja,
warum nicht. Zwei Tage zuvor habe ich mitbekommen, dass hier in der Türkei ein
großer, internationaler Kongress zum Thema „Middle East: Politics and Society“
stattfinden wird (offizielle Website).
Am selben Abend habe ich mir noch ein Busticket in das 2-Stunden-entfernte
Sakarya gekauft und fahre heute dort hin. Ohne Plan, ohne Hotel, ohne
Vorstellung was mich erwarten könnte. Doch mit der Gewissheit: Das ist der
richtige Trip zum richtigen Zeitpunkt.
Ich steige aus dem Bus und das erste, was ich bemerke, ist,
diese unglaublich klare Luft. Von außen muss es echt komisch aussehen, denn ich
stehe circa 2 min direkt am Ausgang des Buses und atme, atme so tief und laut
als ob ich noch nie geatmet habe. Es ist dieser „smell of cold“ und das Wissen
sich aus Istanbul und den Problemen dort losgerissen zu haben, es ist diese
unverpestete Luft in 1000m Höhe, es ist dieser Erlebnishunger, den ich
verspüre, der diese Luft zu Abenteuerlust transformieren kann. Guter Dinge
wandle ich in das Kongressgebäude und merke sofort wie inadäquat ich eigentlich
gekleidet bin: Kurze Hose, Tshirt, meinen roten Bagpacker Rucksack auf dem
Rücken und ein Grinsen so breit wie die Katze in Alice im Wunderland. Um mich
herum nur Businessmenschen und hochrangige Wissenschaftler. Pf, sei’s drum. Ich
setze mich trotzig so weit nach vorne wie möglich. Ich möchte unter ihnen sein.
Eintauchen. Die Menschen spüren, denen ich den nächsten 3 Tagen zuhören werde.
Die drei Konferenzräume, wobei der größte Platz für ca. 800
Menschen bietet, insgesamt über 110 Redner
sprachen über 10 verschiedene Themengebiete des Mittleren Ostens, in
Türkisch, Arabisch und Englisch. Und das alles, was ich übrigens am meisten
überraschte, wird alles von professionellen Simultandolmetschern übersetzt,
sodass jeder immer alles verstehen konnte (zumindest theoretisch). Auch die
Gäste waren hochkarätig: Norman Finkelstein, dem berühmtesten jüdischen
Israel-Kritikers, dem Al-Jazeera sogar eine ganze Dokumentation gewidmet hat;
ein Mann aus dem iranischen Ministerium für Außenpolitik (habe seinen Namen
vergessen) und Ahmet Davutoglu, der türkische Außenminister persönlich! Man
muss sich das mal vorstelle: Das ist, als ob Guido Westerwelle an einer
Universität spricht.
Zwar ist letzter auf Grund der Syrienkrise nur per
Videokonferenz zugeschaltet und seine Rede geprägt, möglichst keine Aussagen
über den derzeitigen Konflikt zu machen, aber ich bin dennoch begeistert von
den ganzen organisatorischen Aufwand, der hier betrieben wird.
In der Mitte Norman Finkelstein |
Auch das Problem mit der Übernachtung hat sich schnell
gelöst. Bereits in der ersten Pause habe ich andere deutsche Studenten dieser
Universität kennengelernt, die mir so gleich ein Bett anboten. Das war
einfacher als ich erwartet habe.
Im Rückblick muss ich aber auch zugeben, dass die
Organisation auch an ihre Grenzen gestoßen ist: Aufgrund des schlechten
Zeitmanagements kam es nie zu einer Diskussion. Einige Redner waren sogar so
unhöflich, dass sie auf der Bühne ihre Genervtheit vom derzeitigen Redner durch
ständige Blicke auf die Uhr, Kopfschütteln oder andere Gestiken kundtun
mussten.
Ganz rechts der genervte Ali |
Außerdem taten mir die 12 Dolmetscher leid, die 3 Tage
hintereinander von morgens um 9 bis abends 20 Uhr durchreden mussten.
Unfassbar. Dementsprechend war dann auch die Qualität zu Schluss, sodass es am
zweiten Abend zu einem kleineren Eklat kam, als die Dolmetscherinnen während
des Textes hinzufügen: „Ich möchte die Organisatoren darauf aufmerksam machen,
dass unsere bezahlte Zeit vorbei ist und wir in 5 min gehen werden“. Aha. Da
haben die Redner aber auch Augen gemacht und wussten gar nicht, was sie jetzt
sagen sollten. Schließlich sind noch 2 Redner ausgestanden und wir sind noch
nicht mal zur Diskussion gekommen. Nach einigen Geschimpfe auf Türkisch über
den ganzen Saal hinweg, haben sie sich dennoch überzeugen lassen, noch 30 min
länger zu bleiben.
Im Spotlight mein Prof Mehmet. (Balkan Wars Congress) |
Ich jedenfalls habe mich auch nach dem zweiten von drei
Tagen vom Kongress verabschiedet und bin nachts wieder nach Istanbul gefahren,
um am nächsten Tag am nächsten 3-tägigen Kongress teilzunehmen. Diesmal an meiner Universität zum
Thema „Balkan Wars. 100 years passed. Origin, Memories & Consequences
for today”.
So etwas sollte man einfach nicht verpassen. Mir geht es dabei gar
nicht immer um den Inhalt, sondern um die Atmosphäre, das Networking zu
beobachten und zu sehen wie gute Themen schlecht präsentiert werden können und
wie unscheinbare Themen durch Rhetorik für echte Denkanstöße sorgen können.
Hier kann man den Menschen, von denen man sonst immer nur liest, einmal
wirklich begegnen. Oder umgekehrt: Man kann man von Menschen, denen man schon oft
begegnet ist, wieder hören: Ich musste zwei- dreimal aufhorchen, als bei bestimmten
Reden auf einmal Bernhard Giesen, Aleida Assmann und Reinhart Kosselleck zitiert
wurden (zugegeben: letzterer war Heidelberger, aber wird in Konstanz viel
gelesen!). Voller Stolz glaubt für einen Moment, dass man versteht, was dort
oben, auf der Bühne der Wissenschaft vor sich geht. Für einen Moment lang der
Illusion folgen.
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