Freitag, 12. Oktober 2012

Dem Ruf der Wisschenschaft folgend



Mit halb geschlossenen Augen verlasse ich um 6:20 Uhr meine Wohnung. Auf den Rücken mein gepackter Rucksack. Mal was verrücktes machen? Ja, warum nicht. Zwei Tage zuvor habe ich mitbekommen, dass hier in der Türkei ein großer, internationaler Kongress zum Thema „Middle East: Politics and Society“ stattfinden wird (offizielle Website). Am selben Abend habe ich mir noch ein Busticket in das 2-Stunden-entfernte Sakarya gekauft und fahre heute dort hin. Ohne Plan, ohne Hotel, ohne Vorstellung was mich erwarten könnte. Doch mit der Gewissheit: Das ist der richtige Trip zum richtigen Zeitpunkt.

Ich steige aus dem Bus und das erste, was ich bemerke, ist, diese unglaublich klare Luft. Von außen muss es echt komisch aussehen, denn ich stehe circa 2 min direkt am Ausgang des Buses und atme, atme so tief und laut als ob ich noch nie geatmet habe. Es ist dieser „smell of cold“ und das Wissen sich aus Istanbul und den Problemen dort losgerissen zu haben, es ist diese unverpestete Luft in 1000m Höhe, es ist dieser Erlebnishunger, den ich verspüre, der diese Luft zu Abenteuerlust transformieren kann. Guter Dinge wandle ich in das Kongressgebäude und merke sofort wie inadäquat ich eigentlich gekleidet bin: Kurze Hose, Tshirt, meinen roten Bagpacker Rucksack auf dem Rücken und ein Grinsen so breit wie die Katze in Alice im Wunderland. Um mich herum nur Businessmenschen und hochrangige Wissenschaftler. Pf, sei’s drum. Ich setze mich trotzig so weit nach vorne wie möglich. Ich möchte unter ihnen sein. Eintauchen. Die Menschen spüren, denen ich den nächsten 3 Tagen zuhören werde.
Die drei Konferenzräume, wobei der größte Platz für ca. 800 Menschen bietet, insgesamt über 110 Redner  sprachen über 10 verschiedene Themengebiete des Mittleren Ostens, in Türkisch, Arabisch und Englisch. Und das alles, was ich übrigens am meisten überraschte, wird alles von professionellen Simultandolmetschern übersetzt, sodass jeder immer alles verstehen konnte (zumindest theoretisch). Auch die Gäste waren hochkarätig: Norman Finkelstein, dem berühmtesten jüdischen Israel-Kritikers, dem Al-Jazeera sogar eine ganze Dokumentation gewidmet hat; ein Mann aus dem iranischen Ministerium für Außenpolitik (habe seinen Namen vergessen) und Ahmet Davutoglu, der türkische Außenminister persönlich! Man muss sich das mal vorstelle: Das ist, als ob Guido Westerwelle an einer Universität spricht.
Zwar ist letzter auf Grund der Syrienkrise nur per Videokonferenz zugeschaltet und seine Rede geprägt, möglichst keine Aussagen über den derzeitigen Konflikt zu machen, aber ich bin dennoch begeistert von den ganzen organisatorischen Aufwand, der hier betrieben wird.
In der Mitte Norman Finkelstein
Auch das Problem mit der Übernachtung hat sich schnell gelöst. Bereits in der ersten Pause habe ich andere deutsche Studenten dieser Universität kennengelernt, die mir so gleich ein Bett anboten. Das war einfacher als ich erwartet habe.
Im Rückblick muss ich aber auch zugeben, dass die Organisation auch an ihre Grenzen gestoßen ist: Aufgrund des schlechten Zeitmanagements kam es nie zu einer Diskussion. Einige Redner waren sogar so unhöflich, dass sie auf der Bühne ihre Genervtheit vom derzeitigen Redner durch ständige Blicke auf die Uhr, Kopfschütteln oder andere Gestiken kundtun mussten.
Ganz rechts der genervte Ali
Außerdem taten mir die 12 Dolmetscher leid, die 3 Tage hintereinander von morgens um 9 bis abends 20 Uhr durchreden mussten. Unfassbar. Dementsprechend war dann auch die Qualität zu Schluss, sodass es am zweiten Abend zu einem kleineren Eklat kam, als die Dolmetscherinnen während des Textes hinzufügen: „Ich möchte die Organisatoren darauf aufmerksam machen, dass unsere bezahlte Zeit vorbei ist und wir in 5 min gehen werden“. Aha. Da haben die Redner aber auch Augen gemacht und wussten gar nicht, was sie jetzt sagen sollten. Schließlich sind noch 2 Redner ausgestanden und wir sind noch nicht mal zur Diskussion gekommen. Nach einigen Geschimpfe auf Türkisch über den ganzen Saal hinweg, haben sie sich dennoch überzeugen lassen, noch 30 min länger zu bleiben.
Im Spotlight mein Prof Mehmet. (Balkan Wars Congress)
Ich jedenfalls habe mich auch nach dem zweiten von drei Tagen vom Kongress verabschiedet und bin nachts wieder nach Istanbul gefahren, um am nächsten Tag am nächsten 3-tägigen Kongress teilzunehmen. Diesmal an meiner Universität zum Thema „Balkan Wars. 100 years passed. Origin, Memories & Consequences for today”.
 So etwas sollte man einfach nicht verpassen. Mir geht es dabei gar nicht immer um den Inhalt, sondern um die Atmosphäre, das Networking zu beobachten und zu sehen wie gute Themen schlecht präsentiert werden können und wie unscheinbare Themen durch Rhetorik für echte Denkanstöße sorgen können. Hier kann man den Menschen, von denen man sonst immer nur liest, einmal wirklich begegnen. Oder umgekehrt: Man kann man von Menschen, denen man schon oft begegnet ist, wieder hören: Ich musste zwei- dreimal aufhorchen, als bei bestimmten Reden auf einmal Bernhard Giesen, Aleida Assmann und Reinhart Kosselleck zitiert wurden (zugegeben: letzterer war Heidelberger, aber wird in Konstanz viel gelesen!). Voller Stolz glaubt für einen Moment, dass man versteht, was dort oben, auf der Bühne der Wissenschaft vor sich geht. Für einen Moment lang der Illusion folgen.

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