Dienstag, 2. Oktober 2012

Zwischen Ankommen und Wegrennen



Ich lebe jetzt in Üsküdar. Der Bosporus trennt mich von Europa. Wenn ich aus dem Haus gehen will, dann muss ich mich das früh planen, denn ich werde bis abends nicht mehr zurückkehren. Gut - so habe ich es gewollt. Ich wollte anfangs bewusst nicht in eine reine Erasmus-Bude mit nur partymachenden Menschen, weil ich etwas von Land und Leute haben will. Ich bevorzugte mit einer Türkin zusammenzuziehen. Und jetzt bin ich in Asien, brauche 40 min bis zu meiner Uni, 1,25 Stunden bis zum Stadtzentrum und auch 1 Stunde bis zu dem nächsten Menschen, den ich in Istanbul kenne. Das ist wohl der Tribut dafür. Ob ich das wirklich so gewollt habe, bin ich mir mittlerweile nicht mehr sicher.
Aufgrund der riesigen Distanzen bin ich viel alleine. Zwar habe ich eine türkische Mitbewohnerin, doch wir sind nur zu zweit und sie arbeitet viel und ist praktisch nie Zuhause. Selbst am Wochenende steht sie um 7:30 Uhr auf, um sich für ihren zweiten Job als Musiklehrerin fertigzumachen. Das Leben als  Arbeitnehmer hier muss hart sein.
Ich versuche derzeit angestrengt mit anderen Kontakte zu knüpfen und Kontakt zu halten mit denen, die ich schon kenne, doch die vermehrte Rückmeldung ist: „Ich bin gerade am anderen Ende der Stadt mit XY“. Viele machen etwas mit Freunden in der nahen Umgebung, da bin ich bereits räumlich exkludiert.


Ich wandle neben einem besitz(er)losen Straßenköter durch die staubigen Straßen Istanbuls auf der Suche nach Dingen, die ich noch nicht benennen kann. Irgendwie überkommt mich das Gefühl, dass nur dieser Hund neben mir das gleiche fühlt wie ich: den Straßen folgend und sich immer weiter vom Bekannten entfernend, suchen wir einen Ort zum Bleiben, Hinlegen und Wiederaufstehen. Ruhe in der Ruhelosigkeit finden.
Ein Vater mit seiner Tochter im Arm am Bosporus (c) Ben-J
Fremde Gesichter blicken mich verständnislos an, und rauschen im selben Moment an mir vorbei, sodass ich nicht sicher bin, ob sie wirklich Notiz von mir genommen haben. Es scheint ihnen egal zu sein. Allen Menschen ist hier alles egal. Wie aneinandergereihte Perlen zieht es uns durch die Gassen bis uns die Wege wieder voneinander trennen. Die Stadt frisst dich auf. Sie lässt keine Individualität zu. Du bist immer einer von vielen. Einer von vielen, der über die Straße will, einer von vielen, der von der Stadt gestresst und liebkost wird, einer von vielen, der ein Problem mit seinem Visa hat, einer von vielen, der am Hafen entlang läuft. Einer von vielen, der einfach nur weg will, doch nicht weiß wohin und deswegen - einfach stehen bleibt. Und sich im Sonnenuntergang Istanbuls wünscht, diesen Moment mit anderen teilen zu können.

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