Manchmal weiß ich gar nicht, welches Erlebnis es wert ist, zu
erzählen. Mein Muskelfaserriss durch das Aufdrehen eines Gurkenglases? Mein
Sprung aus einem Bus gegen eine Straßenlaterne?
Vielleicht einfach nur den gestrigen Abend.
„Was machen wir jetzt?“, frage ich Joseph und Vladmir mit
Blick auf den angebrochenen Abend um 21 Uhr und zwei 8€ Guiness-Bier im Kopf. „Also
ich muss jetzt gehen. Ich hab morgen einiges vor. Also, haut rein!“. Und da
passiert es. Überraschend und doch so vorhersehbar. Vladimir, ein 2m großer
Deutsch-Russe schiebt seinen Körperschwerpunkt nach hinten, holt zum Abklatschen
aus, und trifft einen älteren Mann mit einem Krückstock in der Hand. Dieses
Versehen als natürliches Risiko an diesem Platz ansehend, strömt Vladimir mit
den anderen Menschen in Richtung Metrostation. „Daima bu gençler!“ seufzt der
Mann uns mit einem Kopfschütteln zu, als würde er nach Zeugen dieser
Unhöflichkeit suchen. In unseren ratlosen Blicken kann er jedoch gleich lesen,
dass wir kein Wort verstanden haben und tritt langsam einen Schritt an uns
näher. „Ah, ihr versteht kein Türkisch. Ich sagte: Immer diese jungen Menschen!
Die können nicht aufpassen wo sie hinlaufen und dabei für eingeschränkte
Menschen zur Gefahr werden. Wo kommt ihr denn her? Deutschland!? – Herzlich willkommen
in Istanbul!“ reagierte er in einem akzentfreien Deutsch. „Woher können sie so
gut Deutsch sprechen?“ – „Ich habe ein Stipendium bekommen und konnte in
Deutschland studieren. In Hannover. Aber das ist lange her. Ich finde Sprachen
toll und habe viele Jahre als Simultan-Dolmetscher gearbeitet. Aber dann ist
das mit dem Knie passiert“, erklärt er uns und deutet mit seinem Holzkrückstock
auf sein wacklig dastehendes Bein.
Nach angenehmen 5min Gespräch mit ihm über die nicht zufriedenstellende Situation an unseren
beiden Universitäten, die uns kein Sprachkurs anbieten, wird er kurz still, als
würde er in sich Mut sammeln, um das, was er mit sich trägt über seine Lippen
zu bekommen. „Meine Freunde, ich will ehrlich sein…“, sein Blick richtet sich
zu Boden. Sein inneres Ringen mit dem folgenden Satz ist förmlich zu spüren. „…
mir geht es nicht gut. Seit meinem Knievorfall habe ich keinen Job mehr, ich habe
meinen Laptop und all meine Wertsachen verkauft. Ich wohne in einem kleinen Zimmer,
am Rande der Stadt, das ich sehr mag“, die Worte fallen wie abgeworfener
Ballast aus seinem Mund, „aber ich bin 2 Monatsmieten im Rückstand. Heute Abend
habe ich meine 7-Sachen gepackt, habe dicke Kleidung dabei, weil ich dort nicht
länger bleiben kann. Jetzt, meine Freunde…“, er holt erneut tief Luft und
seufzt den nächsten Satz über seine Lippen, „hättet ihr Interesse daran, dass
ich euch Türkisch beibringe? Ich weiß nicht, was ihr für einen Eindruck von mir
habt, aber ihr würdet mir damit unglaublich helfen.“
Mein Misstrauen gegenüber Menschen ist hier bekanntlich
gewachsen, aber Joseph und ich sind uns einig: Er ist ein wirklich netter Mann
und ein Einzel-Sprachkurs von einem studierten Linguisten kann sicherlich eine Situation
bedeuten, die für alle beteiligten von Vorteil sein kann. Nach einem Besuch in
einer Kneipe um die Ecke, in der er uns genau erklärt wie er sich das
vorstellen könnte und welche Fähigkeiten wir bei ihm erlernen können, sind wir
gerne bereit eine Monatsmiete für sein Zimmer als Bezahlung vorzustrecken. Als
er das Geld in seinen Händen hält, sehen wir wie er ein lange vergessenes
Grinsen auf die Backen bekommt und seine Augen unter den Falten so klein
werden, dass sie fast nicht mehr zu erkennen sind. „Danke, Danke, Danke“, flüstert
er und umschließt uns in seiner Umarmung samt Krückstock, „ihr habt keine
Ahnung wie ihr mir damit helft! Ich werde alles abarbeiten. Ihr werdet nicht
enttäuscht sein. Versprochen!“
Vielleicht hat dieses Treffen einfach sein sollen.
Vielleicht passieren solche Dinge ständig in einer so verrückten Stadt, doch
heute ist es eben uns passiert.
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