Samstag, 20. Oktober 2012

Dinge, die passieren...


Manchmal weiß ich gar nicht, welches Erlebnis es wert ist, zu erzählen. Mein Muskelfaserriss durch das Aufdrehen eines Gurkenglases? Mein Sprung aus einem Bus gegen eine Straßenlaterne?
Vielleicht einfach nur den gestrigen Abend.
„Was machen wir jetzt?“, frage ich Joseph und Vladmir mit Blick auf den angebrochenen Abend um 21 Uhr und zwei 8€ Guiness-Bier im Kopf. „Also ich muss jetzt gehen. Ich hab morgen einiges vor. Also, haut rein!“. Und da passiert es. Überraschend und doch so vorhersehbar. Vladimir, ein 2m großer Deutsch-Russe schiebt seinen Körperschwerpunkt nach hinten, holt zum Abklatschen aus, und trifft einen älteren Mann mit einem Krückstock in der Hand. Dieses Versehen als natürliches Risiko an diesem Platz ansehend, strömt Vladimir mit den anderen Menschen in Richtung Metrostation. „Daima bu gençler!“ seufzt der Mann uns mit einem Kopfschütteln zu, als würde er nach Zeugen dieser Unhöflichkeit suchen. In unseren ratlosen Blicken kann er jedoch gleich lesen, dass wir kein Wort verstanden haben und tritt langsam einen Schritt an uns näher. „Ah, ihr versteht kein Türkisch. Ich sagte: Immer diese jungen Menschen! Die können nicht aufpassen wo sie hinlaufen und dabei für eingeschränkte Menschen zur Gefahr werden. Wo kommt ihr denn her? Deutschland!? – Herzlich willkommen in Istanbul!“ reagierte er in einem akzentfreien Deutsch. „Woher können sie so gut Deutsch sprechen?“ – „Ich habe ein Stipendium bekommen und konnte in Deutschland studieren. In Hannover. Aber das ist lange her. Ich finde Sprachen toll und habe viele Jahre als Simultan-Dolmetscher gearbeitet. Aber dann ist das mit dem Knie passiert“, erklärt er uns und deutet mit seinem Holzkrückstock auf sein wacklig dastehendes Bein.
Nach angenehmen 5min Gespräch mit ihm über die  nicht zufriedenstellende Situation an unseren beiden Universitäten, die uns kein Sprachkurs anbieten, wird er kurz still, als würde er in sich Mut sammeln, um das, was er mit sich trägt über seine Lippen zu bekommen. „Meine Freunde, ich will ehrlich sein…“, sein Blick richtet sich zu Boden. Sein inneres Ringen mit dem folgenden Satz ist förmlich zu spüren. „… mir geht es nicht gut. Seit meinem Knievorfall habe ich keinen Job mehr, ich habe meinen Laptop und all meine Wertsachen verkauft. Ich wohne in einem kleinen Zimmer, am Rande der Stadt, das ich sehr mag“, die Worte fallen wie abgeworfener Ballast aus seinem Mund, „aber ich bin 2 Monatsmieten im Rückstand. Heute Abend habe ich meine 7-Sachen gepackt, habe dicke Kleidung dabei, weil ich dort nicht länger bleiben kann. Jetzt, meine Freunde…“, er holt erneut tief Luft und seufzt den nächsten Satz über seine Lippen, „hättet ihr Interesse daran, dass ich euch Türkisch beibringe? Ich weiß nicht, was ihr für einen Eindruck von mir habt, aber ihr würdet mir damit unglaublich helfen.“
Mein Misstrauen gegenüber Menschen ist hier bekanntlich gewachsen, aber Joseph und ich sind uns einig: Er ist ein wirklich netter Mann und ein Einzel-Sprachkurs von einem studierten Linguisten kann sicherlich eine Situation bedeuten, die für alle beteiligten von Vorteil sein kann. Nach einem Besuch in einer Kneipe um die Ecke, in der er uns genau erklärt wie er sich das vorstellen könnte und welche Fähigkeiten wir bei ihm erlernen können, sind wir gerne bereit eine Monatsmiete für sein Zimmer als Bezahlung vorzustrecken. Als er das Geld in seinen Händen hält, sehen wir wie er ein lange vergessenes Grinsen auf die Backen bekommt und seine Augen unter den Falten so klein werden, dass sie fast nicht mehr zu erkennen sind. „Danke, Danke, Danke“, flüstert er und umschließt uns in seiner Umarmung samt Krückstock, „ihr habt keine Ahnung wie ihr mir damit helft! Ich werde alles abarbeiten. Ihr werdet nicht enttäuscht sein. Versprochen!“
Vielleicht hat dieses Treffen einfach sein sollen. Vielleicht passieren solche Dinge ständig in einer so verrückten Stadt, doch heute ist es eben uns passiert.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen