Samstag, 2. Februar 2013

Der Sonnenkönig

Es ist faszinierend zu sehen wie andere Familien funktionieren. Ich erlebe hier eine unglaubliche Loyalität in allen Belangen. Meine Gastgeberin Irem (23) ist ein wirklicher Engel und will ihre Familie auf die Beste Art und Weise repräsentieren. Also beherbergt sie mich wie einen König. Aber warum? Was hat sie davon? Hat sie nicht irgendwann auch mal die Schnauze von mir voll? Nervt sie es nicht, dass wir aufgrund der Sprachbarriere nicht richtig kommunizieren können und uns nur noch Gestik weiterhelfen? Wird sie denn nicht froh sein, wenn sie mich als Bürde endlich los hat? Das sind eher so europäische Fragestellungen, die hier schlicht fehl am Platz sind. Der Gast ist König und das soll er auch gefälligst spüren. Ob es ums Tischdecken oder ums Rechnung bezahlen in einem teuren Restaurant geht – der Gast hat still zu sitzen. Für mich eine ganz neue Herausforderung.
Ich wurde regelrecht davon gejagt, als ich helfen wollte den Tisch zu decken. „Sitz und warte! Wir machen alles!“ wurde mir wie einem Hund vermittelt. Also sitze ich und warte bis der Tisch mit den teuersten Nüssen und exotischen Früchten (im Winter!) gedeckt ist. Hier will die Passivität aushalten gelernt sein. Ein ganz ungewöhnliches Gefühl, denn es kribbelt mir schon wieder in den Fingern, wenn ich zusehen muss wie sie ein riesiges Tablett durch die schmale Küchentür balanciert.

Amasya
Reflektierend merke ich dabei wie wir in Europa doch so völlig anders erzogen werden: Wir folgen dem Konzept der Autonomie. Sobald das Kind gehen kann, wird es hinaus geschickt in die Welt, um dort draußen zu überleben. Selbstgesteckte Ziele sind immer: Unabhängigkeit, Freiheit, Autonomie. Hier ist das nicht so. Es wäre hier undenkbar, dass die Kinder nicht ihre Eltern mit ihrem späteren Einkommen mitfinanzieren. Es wäre hier undenkbar, dass die Kinder nicht bei den Eltern wohnen bleiben. Es wäre hier undenkbar, dass die Kinder nicht auf die Meinung und den Rückhalt der Familie angewiesen sind. Mein Freund Hasan beschrieb dies mir einst so: „Während ihr Europäer alles was ihr für euren Antrieb braucht, nämlich euren Kopf, ständig bei euch habt, so haben wir hier in der Türkei unseren Antrieb in der Familie verwurzelt. Das heißt: Sobald wir in ein fremdes Gebiet eindringen sind wir orientierungslos und völlig verloren. Deswegen scheitern wir auch bei jedem Versuch starke Individuen auszubilden.“
Und weil die Familie so groß geschrieben werden muss, und ein Gast der Familie deshalb repräsentativ für deren interne Funktionalität steht, muss der Gast warten, muss Rezipient statt Teilnehmer werden. Und so warte ich. Gerne wäre ich bereits vor einer Stunde ohne Frühstück gegangen, der lange Weg, er heute noch vor mir liegt, verlangt es eigentlich von mir. Doch ich muss warten - denn der Tisch ist noch nicht für das pompöse Frühstück gedeckt.

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